TROTZ ALLEDEM!

Marxistisch-leninistische Ausgangspositionen zur Migration

Die Frage der Migration (sowohl die Binnenwanderung vom Land in die Stadt, als auch die Migration von einem Land in ein anderes) wird von den Klassikern des Marxismus-Leninismus immer eingeordnet in übergreifende gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Sie zeigen die objektiven Entwicklungsgesetze in der kapitalistischen Gesellschaft auf, die diese hervorrufen, legen dar wie die Migration auf diese Entwicklungsgesetze zurückwirkt und behandeln die Frage welche Entwicklung der Bewußtseinsstand der ArbeiterInnen dadurch nimmt und wie sie auf die Formierung der Arbeiterklasse wirkt.

Die Klassiker analysieren die ökonomischen Grundgesetze, die zur Migration führen und wie die Migration den Interessen der Großgrundbesitzer und Kapitalisten dient. Die herrschenden Klassen schaffen sich damit eine industrielle Reservearmee, aus der sie mehr Profit pressen, die sie zum Lohndrücken einsetzen, und mit der sie die Konkurrenz, die Spaltung und den Chauvinismus/Rassismus unter den Arbeitern verfestigen.

Einerseits legen die Klassiker eindrücklich die negativen Auswirkungen der Migration insbesondere für die immigrierten, aber auch für die inländischen Arbeiter dar, heben aber andererseits auch die objektiv fortschrittliche vom Kapital nicht erwünschte Wirkung und Bedeutung der Arbeiterwanderung hervor.

Die Ein- und Auswanderung ist also ein objektiver durch das Kapital - in Zeiten des Imperialismus des Finanzkapitals - hervorgerufener Prozeß. Dialektisch-materialistisch haben sich die Klassiker selbstverständlich nicht gegen diesen Prozeß selbst gewandt, sondern ihn analysiert und die sich daraus ergebenden Aufgaben für das Proletariat festgelegt.

Selbstverständlich sind unter Migration/Einwanderung/Auswanderung verschiedene Wanderbewegungen zu verstehen, die jeweils unterschiedliche historische Ausformungen annahmen. Grob sollte man unserer Meinung nach unterteilen:

* die langfristige Immigration von ArbeiterInnen aus einem Land in ein anderes, mit dem Ziel in dem eingewanderten Land zu bleiben;

* die für einen bestimmten Zeitraum vorgesehene (entweder vom Kapital des Einwanderungslandes oder von den Werktätigen selbst - oder beides) Immigration in ein Land mit "festgelegter" Rückkehr;

* die saisonelle Wanderung, die nur für einen bestimmten Zeitraum in einem Jahr in ein anderes Land stattfindet (besonders Landarbeiter, Baugewerbe etc.);

* politische Emigration aus Ländern aus denen aufgrund reaktionärer, politischer, religiöser, rassistischer oder nationalistischer Verfolgung oder Kriegen Menschen, oftmals ganze Menschengruppen/Völker, (langfristig oder vorübergehend) auswandern müssen;

* Binnenwanderung, insbesondere vom Land in die Städte in einem Land (auf die gehen wir nicht näher ein). (1)

Migration im Kapitalismus

Mit der Geburt des Kapitalismus und seiner "Internationalität" begann auch ein Zeitalter neuer Völkerwanderungen. Nicht mehr Naturkatastrophen, Seuchen oder feudale Kriege, sondern die Notwendigkeit die Arbeitskraft zu verkaufen um zu überleben lösten Bevölkerungswanderungen aus. Detailliert weisen Marx und Engels in der Analyse der historischen Entwicklung des Kapitalismus auf, wie durch die kapitalistische Entwicklung in der Landwirtschaft Millionen von Bauern proletarisiert, ins Elend gestoßen und zur Auswanderung gezwungen wurden. Im 19. Jahrhundert (bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts hinein) fanden große Migrationsbewegungen zwischen Europa/Asien und Amerika (Australien, Canada etc.) statt.

Am Beispiel der Auswanderung deutscher ArbeiterInnen nach Amerika untersucht Friedrich Engels 1882 die beiden Seiten des Migrationsprozesses.

"Die Zahl der amerikanischen Geldfürsten ist noch weit größer. Und diese fabelhafte Reichtumsakkumulation wird durch die enorme Einwanderung in Amerika noch von Tag zu Tag gesteigert. Denn direkt und indirekt kommt dieselbe in erster Linie den Kapitalmagnaten zugute. Direkt, indem sie die Ursache einer rapiden Steigerung der Bodenpreise ist, indirekt, indem die Mehrzahl der Einwanderer den Lebensstand der amerikanischen Arbeiter herabdrückt. Schon jetzt finden wir in den zahllosen Streikberichten, welche unsere amerikanischen Bruderorgane melden, einen immer größeren Prozentsatz von Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen, und die meisten auf Lohnerhöhung abzielenden Streiks sind im Grunde auch nichts anderes, denn sie sind entweder hervorgerufen durch die enorme Steigerung der Preise oder durch das Ausbleiben der sonst im Frühjahr üblichen Lohnerhöhungen.

Auf diese Weise trägt der Auswandererstrom, den Europa jetzt jährlich nach Amerika entsendet, nur dazu bei, die kapitalistische Wirtschaft mit all ihren Folgen auf die Spitze zu treiben, so daß über kurz oder lang ein kolossaler Krach drüben unvermeidlich wird. Dann wird der Auswandererstrom stocken oder vielleicht gar seinen Lauf zurücknehmen, d.h. der Moment gekommen sein, wo der europäische, speziell der deutsche Arbeiter vor der Alternative steht: Hungertod oder Revolution! Steht aber die Alternative einmal so, dann ade - ihr Glückspilze des heiligen preußisch-deutschen Kaiserreichs!

Und der Moment ist näher, als es die meisten sich träumen lassen. Schon hält es für die Einwanderer drüben schwer, Arbeit zu finden, immer deutlicher zeigen sich die Vorboten der nahenden Geschäftskrisis, ein noch so geringfügiger Anlaß im entscheidenden Moment genügt, und - der Krach ist da!

(Leider ist der von Engels erhoffte Krach in dem Ausmaß - bis hin zum Ausbruch der Revolution - nicht eingetreten! A.d.V.)

Darum, so sehr wir auch mit der ‘New Yorker Volkszeitung’ die Auswanderung aus Deutschland bedauern, so sehr wir überzeugt sind, daß dieselbe zunächst eine wesentliche Verschlechterung der Lage der amerikanischen Arbeiter im Gefolge haben wird, und so sehr wir ferner mit ihr wünschten, daß die deutschen Arbeiter ihr ganzes Augenmerk ausschließlich auf die Verbesserung ihrer Lage in Deutschland richteten, so können wir ihren Pessimismus doch nicht teilen. Wir müssen eben mit den Verhältnissen rechnen, und -da dieselben, dank der Kurzsichtigkeit und Habgier unserer Gegner, eine Entwicklung im wirklich reformatorischen Sinne immer mehr ausschließen- unsere Aufgabe darin suchen, die Geister allen Angstmeiern zum Trotz, vorzubereiten auf den revolutionären Gang der Ereignisse.

Für den Konflikt: Riesenhafte Konzentration des Kapitals einerseits und wachsendes Massenelend andererseits, gibt es nur eine Lösung: Die soziale Revolution!" (Geschrieben am 3. Mai 1882) (Friedrich Engels, "Über die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten", MEW, Bd. 19, S. 307)

Hervorheben möchten wir, daß Engels obgleich er die Nachteile der Auswanderung benennt –Schwächung der Kampfstärke des deutschen Proletariats, Absenkung des Lohnniveaus der amerikanischen Arbeiter– betont, daß vom objektiven Prozeß ("Wir müssen eben mit den Verhältnissen rechnen") ausgegangen werden muß, und sich nicht gegen diesen selbst gewendet werden darf. Denn auch dieser Prozeß führt nur dazu die Widersprüche des Systems zu verschärfen und daraus muß die Kraft für die revolutionäre Lösung gezogen werden.

Anhand einer anderen bedeutenden Wanderbewegung, der von Irland nach England, analysiert Karl Marx wie neben dem besonderen Profit, der aus der Arbeitskraft der eingewanderten irischen Arbeiter herrausgepreßt wird, die chauvinistische englische Großmacht diese Migration zur Spaltung der englischen und irischen ArbeiterInnen verwendet:

"Zweitens hat die englische Bourgeoisie das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. Das revolutionäre Feuer des keltischen Arbeiters vereinigt sich nicht mit der soliden, aber langsamen Natur des angelsächsischen Arbeiters. Im Gegenteil, es herrscht in allen großen Industriezentren Englands ein tiefer Antagonismus zwischen dem irischen und englischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life (Lebensstandard) herabdrückt. Er empfindet ihm gegenüber nationale und religiöse Antipathien. Er betrachtet ihn fast mit denselben Augen, wie die Poor whites (armen Weißen) der Südstaaten Nordamerikas die schwarzen Sklaven betrachteten. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wachgehalten. Sie weiß, daß diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist." (Karl Marx, "Resolutionsentwurf des Generalrats über das Verhalten der britischen Regierung in der irischen Amnestiefrage", Januar 1870, MEW, Bd. 16, S. 388)

Diese Kernpunkte finden sich in allen zentralen Aussagen von Marx und Engels zur Migration wieder. Zusammenfassend läßt sich sagen, sie verweisen darauf, daß Migration

a) ein objektiver unaufhaltsamer Prozeß des Kapitalismus ist. Unabhängig von dem Willen des einzelnen werden hunderttausende Werktätige in diesen Prozeß miteinbezogen.

b) Diesen Prozeß benutzt die Bourgeoisie vor allem zu einer verschärften Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeitermigranten und auch zur Verschlechterung der Lage der einheimischen ArbeiterInnen.

c) Die Migration wird von der Bourgeoisie dazu benutzt um die ArbeiterInnen der verschiedenen Nationen gegeneinander aufzuhetzen, zu spalten und den Chauvinismus im einheimischen Proletariat gegenüber den einwandernden ArbeiterInnen zu verankern. (2)

Migration im Imperialismus

Im Imperialismus haben sich mit der weltweiten Herrschaft des Finanzkapitals auch die Migrationen zu einem Weltphänomen entwickelt. Die imperialistischen Großmächte und Staaten werfen ihre Netze über alle Länder der Erde aus und ziehen alle in das Getriebe des Finanzkapitals. Die abhängigen, halbkolonialen und unterdrückten Länder, in der die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, werden von einer Handvoll Großmächte ausgepresst und ausgebeutet. Unter den drei wichtigsten Widersprüchen des Imperialismus führt Stalin als dritten auf:

"der Widerspruch zwischen der Handvoll herrschender ‘zivilisierter’ Nationen und den Hunderten von Millionen der kolonialen und abhängigen Völker der Welt." (Stalin, "Über die Grundlagen des Leninismus", SW, Bd. 6, S. 65)

Der in den vom Imperialismus abhängigen Ländern sich gehemmt entwickelnde, abhängige Kapitalismus - verwoben mit feudalen/halbfeudalen Ausbeutungsverhältnissen - zwingt tagtäglich Millionen von verarmten Bauern nicht nur zur Landflucht in die Städte, sondern zur Immigration in andere Länder. Aber auch Arbeiter sind gezwungen ihre Länder zu verlassen, da die Arbeitslosenheere immer mehr anwachsen. Seien es die mexikanischen LandarbeiterInnen in die USA, seien es die nordafrikanischen Vertragsarbeiter in Frankreich, seien es die Wanderarbeiter in Südafrika aus den angrenzenden Ländern, seien es die philippinischen ArbeiterInnen und südindischen Werktätigen in den arabischen Golfstaaten … heute Ende des 20. Jahrhunderts sind Millionen Werktätige aus den abhängigen Ländern gezwungen durch Armut, Hunger und Not, tausende von Kilometer ihre Länder und oftmals ihre Familien zu verlassen um ihre Arbeitskraft auf dem Weltmarkt zu verdingen. In den Ländern, in die sie immigrieren, sind sie die am stärksten Ausgebeuteten und Unterdrückten, sind sie immer die ersten, die die Knute der Krise, der Arbeitslosigkeit und des Elends wieder trifft.

Lenin untersuchte, sich auf die Analysen von Marx und Engels stützend, in einer Reihe von Artikeln verschiedene Fragen der Migration in der Epoche des Imperialismus.(3) Für den Imperialismus stellt er fest:

"Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Abwanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung) in diese Länder aus rückständigen Ländern (mit niedrigen Arbeitslöhnen." (Lenin, "Der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus", LW, Bd. 23, S. 287)

Als Beispiel führt Lenin Deutschland an:

"Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Land, das Arbeiter abgegeben hat, in ein Land, das fremde Arbeiter heranzieht." (LW, Bd.19, S. 449)

In dem Artikel "Kapitalismus und ArbeiterImmigration" heißt es weiter zu den Ursachen und zur Bedeutung der Migration:

"Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.

Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.....

Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands, usw. miteinander vereinigt …

Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der anderen auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewußten Arbeiter, die begreifen, daß die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen." (Lenin, "Kapitalismus und Arbeiterimmigration", Oktober 1913, LW, Bd. 19, S. 447-450)

Wie dieser Artikel zeigt, analysiert Lenin umfassend die Migration als ein Merkmal in der Entwicklung des Imperialismus. Insbesondere ist sie ein Ergebnis des Widerspruchs des Imperialismus: der Ausbeutung der abhängigen Länder durch die imperialistischen. Wenn Lenin in diesem Artikel beschreibt, daß die auswandernden ArbeiterInnen "aus ihren Krähenwinkeln" gerissen werden und zu TeilnehmerInnen an einer weltgeschichtlichen Bewegung gemacht werden, so muß das natürlich auch im geschichtlichen Rahmen gesehen werden. Heute, mit der weiter entwickelten gnadenlosen Vorherrschaft des Imperialismus in jedem Land der Erde, mit der Durchdringung fast jedes entlegendsten Dorfes durch die elektronischen Medien, mit der Herausbildung der ArbeiterInnenklasse in jedem Land der Erde haben sich auch die "Krähenwinkel" verändert. Grundlegend ist aber auch heute noch nach wie vor, daß z.B. für den auswandernden indischen Landarbeiter die imperialistischen Metropolen in die er geschleudert wird, eine andere Welt sind und ihn viel direkter und unmittelbarer mit dem Imperialismus konfrontieren.

Wichtig in Lenins Artikel ist das Hervorheben der "fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung" und der Verweis, daß nur "Reaktionäre davor die Augen verschließen können." Lenin führt hier aus, daß die objektive Entwicklung, die zu dieser Völkerwanderung führt, für das Proletariat eine positive und fortschrittliche Bedeutung hat. In welcher Hinsicht? In der, daß dieser Prozeß objektiv die ArbeiterInnen aller Länder näher bringt, daß die Bedingungen geschaffen werden, daß ArbeiterInnen aus 10.000 von Kilometern auseinanderliegenden Ländern plötzlich zusammenarbeiten und leben. Daß die Möglichkeit des Niederreißens der religiösen, nationalen und sonstigen Schranken, die das Kapital für seine Herrschaft braucht erleichtert wird, daß objektiv für die KommunistInnen die praktische internationale Einheit des Weltproletariats auch in den einzelnen Ländern zu verwirklichen größer wird. Das heißt aber natürlich nicht, daß damit automatisch die Völkerfreundschaft zwischen allen Werktätigen in allen Ländern ausbricht, wie es etliche Opportunisten nahelegen wollen. Wenn die ideologische Vorherrschaft der imperialistischen Bourgeoisie über ihre jeweilige ArbeiterInnenklasse nicht gebrochen wird, dann wird diese es auch schaffen die "moderne Völkerwanderung" für ihre Zwecke zu nutzen und "ihr" Proletariat gegen die eingewanderten ArbeiterInnen aufzuhetzen. Mit der Entwicklung des Imperialismus schuf die Bourgeoisie auch eine materielle Grundlage im "eigenen" Proletariat um diese Vorherrschaft auszubauen: Die Schaffung der Arbeiteraristokratie! Lenin hebt diesen Aspekt in weiteren Schriften ganz besonders hervor.

In der Diskussion über die Revision des Parteiprogramms der SDAPR (B) (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands/Bolschewiki) (1917) tritt Lenin für eine solche Ergänzung ein, die auf die zunehmende Verwendung der "Arbeit ungelernter aus rückständigen Ländern importierter Arbeiter" hinweist. Er führt dabei aus, daß die besonders brutale Ausbeutung der eingewanderten Arbeiter und ihre vollkommene Rechtlosigkeit in den Einwanderungsländern verknüpft ist mit dem "Parasitismus dieser Länder" und der - auch dadurch ermöglichten - gleichzeitig besseren Stellung eines Teils der "einheimischen Arbeitern". Zentral ist hierbei, daß Lenin darauf verweist, daß im Imperialismus bei der Migration in den imperialistischen Ländern die Arbeiteraristokratie, die direktes Interesse an der ökonomisch verschärfteren Ausbeutung und der rechtloseren Stellung der immigrierten ArbeiterInnen hat, eine wesentliche Rolle spielt. Lenin führt aus:

"Gerade für den Imperialismus ist eine solche Ausbeutung der Arbeit schlechter bezahlter Arbeiter aus rückständigen Ländern besonders charakteristisch. Gerade darauf basiert in einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch eine höhere Bezahlung bestechen, während sie gleichzeitig die Arbeit der ‘billigen’ ausländischen Arbeiter maßlos und schamlos ausbeuten. Die Worte ‘schlechter bezahlten’ müßten hinzugefügt werden, ebenso wie die Worte ‘und oft rechtlosen’, denn die Ausbeuter der ‘zivilisierten’ Länder machen sich immer den Umstand zunutze, daß die importierten ausländischen Arbeiter rechtlos sind." (LW, Bd. 26, S. 155)

So stellt er den ArbeiterInnen der imperialistischen Länder es als eine Aufgabe im demokratischen Kampf, der der Entwicklung des sozialistischen Klassenkampfes und der Herstellung der Einheit der Arbeiterklasse dient, auf breiter Front für die gleichen Bürgerrechte für ausländische ArbeiterInnen einzutreten:

"Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische Länder, die fremde Arbeiter in steigender Zahl, wie z.B. die Schweiz schamlos ausbeuten und rechtlos machen).." (LW, Bd. 23, S. 81)

Zusammenfassend läßt sich sagen: Lenin arbeitet die Besonderheiten der Migration im Imperialismus heraus. Er verweist darauf, wie der von Marx und Engels vorgezeichnete Prozeß sich im Imperialismus verstärkt und die Haupttendenz die Migration aus den kolonialen und halbkolonialen Ländern in die imperialistischen ist. Er führt sowohl die negativen wie die fortschrittlichen Aspekte an, um für die Arbeit der KommunistInnen zu fordern, daß die objektiven Entwicklungen genutzt werden, um den Klassenkampf zur Revolution voranzutreiben und zwar durch die Erkämpfung der Einheit des Proletariats in den jeweiligen Ländern im scharfen Kampf gegen die Arbeiteraristokratie. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist das Eintreten der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern für die Rechte der immigrierten ArbeiterInnen und ihre Organisierung.

Die internationale Arbeiterbewegung zur Migration

In der Zeit bis zum I. Weltkrieg:

*"Die I. Internationale Arbeiterassoziation"

Der Schlußsatz des Gründungsdokumentes der Internationalen Arbeiterassoziation, "Inauguraladresse" verfaßt von Karl Marx lautete: "Proletarier aller Länder vereinigt Euch!" Dieses Leitmotto wurde von Marx und Engels versucht zur gesamten Grundlage der Politik der I. Internationale zu machen. In den auf dem Genfer Kongreß (1866) verabschiedeten Statuten wird ausdrücklich betont:

"erklärt der …Kongreß, daß diese Assoziation… Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit anerkennen als Regel ihres Verhaltens zu allen Menschen, ohne Rücksicht auf Farbe, Glauben oder Nationalität". (MEW, Bd. 16, S. 520)

Alle Hindernisse vor diesem internationalistischen Zusammenschluß der ArbeiterInnen sollten im Klassenkampf beseitigt werden. In diesem Verständnis wurde auf dem Genfer Kongreß (1866) die Resolution "Internationale Verbindung der Bestrebungen durch Vermittlung der Assoziation in dem Kampf zwischen der Arbeit und dem Kapital" verabschiedet:

"b) Eine der besonderen Funktionen der Assoziation, welche bereits bei verschiedenen Gelegenheiten mit großem Erfolg ausgeführt worden, ist den Intrigen der Kapitalisten entgegen zu treten, die stets bereit sind, in Fällen von Arbeitseinstellungen und Ausschlüssen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge zur Vereitlung der Ansprüche der Arbeiter ihrer eigenen Länder zu mißbrauchen. Es ist einer der größten Zwecke der Assoziation, daß die Arbeiter verschiedener Länder sich nicht allein wie Brüder fühlen, sondern auch als vereinte Teile der Emanzipations-Armee zu handeln wissen."("Der Vorbote", Nummer 10/1866)

Konkret bezog sich diese Forderung vor allem auf die Situation in England, wo die englischen Kapitalisten Arbeiter des Kontinents zum Streikbrechen herangezogen hatten.

Ein Jahr später wird im Aufruf des Generalrates zur Einberufung des Lausanner Kongresses 1867 auf die Internationalisierung der Ausbeutung und verschärfte Konkurrenz zwischen den ArbeiterInnen der verschiedenen Länder verwiesen und als einzige mögliche Antwort der internationale Zusammenschluß der ArbeiterInnen propagiert:

"… allein das Kapital sieht vermöge neuer industrieller Erfindungen seine Kraft tatsächlich wachsen, wodurch eine große Anzahl nationaler Genossenschaften in eine ohnmächtige Lage geraten, die Kämpfe der englischen Arbeiterklasse studierend, gewahrt man wie die Fabrikherren, um ihren Arbeitern zu widerstehen, sowohl fremde Arbeiter kommen, als auch die Waren dort anfertigen lassen, wo die Arbeitslöhne billiger stehen. Gegenüber dieser Sachlage muß die Arbeiterklasse, wenn sie ihren Kampf mit einiger Aussicht auf Erfolg fortsetzen will, ihre nationale Associationen in internationale umgestalten". ("Der Vorbote", Nr.8/1867)

In dem Bericht des Generalrats der I. Internationale an den Kongreß von Lausanne 1867 wird Bilanz gezogen:

"Die zahlreichen Dienste, welche die Internationale Arbeiterassoziation in den mannigfachen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit in den verschiedenen Ländern erwiesen hat, zeigen deutlich die Notwendigkeit einer derartigen Organisation. Wenn die Arbeiter die willkürlichen Bedingungen der Kapitalisten in England zurückwiesen drohten diese, sie durch ‘Hände’ vom Kontinent zu ersetzen. Die Möglichkeit einer solchen Importation hat in mehreren Fällen genügt, die Arbeiter zum Nachgeben zu veranlassen. Die Wirksamkeit des Generalrats verhinderte, daß solche Drohungen zutage traten wie ehedem. So oft derartiges vorkommt, genügt ein Wink, um die Pläne der Kapitalisten zum Scheitern zu bringen. Bricht ein Streik oder eine Aussperrung unter den Vereinen aus, die zur Internationalen Arbeiterassoziation gehören, dann werden sofort die Arbeiter aller Länder von der Sachlage unterrichtet und vor den Werbeagenten der Kapitalisten gewarnt. Diese Wirksamkeit des Generalrats beschränkt sich übrigens nicht bloß auf die Vereine der Internationalen Arbeiterassoziation die Unterstützung der Assoziation wird allen zuteil die sie anrufen. Vor allem half die Internationale den englischen Arbeitern dadurch, daß sie die gewerkschaftliche Organisation allenthalben außerhalb Englands aufs lebhafteste förderte."

("Die Neue Zeit", 1906-1907, Bd 2 S. 51 /52)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die I. Internationale wegweisend die Einheit des internationalen Proletariats als den einzigen Garanten gegen alle Spaltungsversuche durch die Bourgeoisie an die erste Stelle setzte. Wobei sie (zumindest in ihren Kongreßdokumenten) nicht zur Migration (im Sinne unserer Fragestellung) Position bezogen hat, aber fundamentale Ausgangspunkte zum Internationalismus und zur Durchkreuzung der Spaltungsversuche der Kapitalisten entwickelt hat.

* "Die II. Internationale"

Von der II. Internationale der sozialistischen Parteien wurde auf ihrem 2. Kongreß in Brüssel 1891 gefordert, ausländische Arbeiter zu gleichen Bedingungen wie einheimische in die Gewerkschaft aufzunehmen und damit die herrschende Praxis vieler Gewerkschaften kritisiert, die ausländische Arbeiter per Statut von der Organisierung ausschloß.

"Jede Gewerkschaft muß Fremde zu denselben Bedingungen wie die Einheimischen aufnehmen. Für die verschiedenen Ämter der Gewerkschaften darf zwischen einheimischen und Fremden kein Unterschied gemacht werden." (Siehe "Verhandlungen und Beschlüsse des internationalen Arbeiterkongreß zu Brüssel", S. 19)

Auf dem 3. Kongreß von Zürich 1893 heißt es im Beschluß zur Gewerkschaftsfrage:

"Die italienische Delegation, im Hinblick auf den unheilvollen Einfluß den die eingewanderten nicht organisierten Arbeiter auf die Arbeiterorganisationen ausüben, indem sie die Löhne drücken, Streiks verhindern und manchmal zu heftigen Konflikten Veranlassung geben - ersucht alle sozialistischen Parteien und Arbeiterverbände der Länder, in welchen diese ‘unloyale Konkurrenz’ stattfindet, die sozialistischen Ideen unter den Eingewanderten zu verbreiten... Der Kongreß…beschließt: Es ist notwendig dass in Ländern, in welchen die von der Konkurrenz der eingewanderten, den Gewerkschaften nicht angehörenden Arbeitern verursachten Übel fühlbar werden, die sozialistischen Parteien und Arbeiterverbände daran arbeiten, die Propaganda der Organisation des Proletariats und der internationalen Solidarität zu verbreiten." ("Kongreßprotokolle der Zweiten Internationale", Bd. 1, S. 51)

Hier wird nicht die besondere Ausbeutung oder Rechtlosigkeit der immigrierenden Arbeiter zum Thema gemacht, es wird nicht die Aufhetzung der inländischen Arbeiter thematisiert sondern es werden nur negative Auswirkungen der Migration auf die "einheimischen ArbeiterInnen" benannt. Für diese werden dann noch nicht einmal das Kapital sondern die einwandernden Arbeiter selbst verantwortlich gemacht.

Auf dem Kongreß 1896 in London wird nur auf die spezielle Auswanderung nach Amerika eingegangen.

Auf dem Amsterdamer Kongreß der II. Internationale 1904 kommt es zur ersten Debatte in einem gesonderten Tagesordnungspunkt "Einwanderung und Auswanderung". Es standen sich zwei Positionen gegenüber. Die Mehrheitsposition der Kommission in dieser Frage, lehnte in ihrem Resolutionsentwurf einerseits zwar die Diskriminierung der Einwanderer und gesetzliche Beschränkungen der Einwanderung ab. Aber sie argumentierte in "gesamtnationaler Verantwortung" wie "gefährlich für das Einwanderungsland der Zuzug schlecht bezahlter, gefügiger und arbeitswilliger Elemente ist" und empfiehlt "daß es nützlich ist, wenn die sozialistischen Vertreter in den Parlamenten verlangen, daß die Regierungen die zahlreichen Mißstände, welche jener Lohndrücker-Import hervorruft, durch eine strenge und wirksame Kontrolle bekämpfen". ("Protokoll des Amsterdamer Kongresses", S. 51). (*)

Diese Forderung ist grundfalsch, reformistisch und begreift überhaupt nicht, daß die Migration eine notwendige (nicht "reformierbare") Erscheinung des Imperialismus ist, die - je nach Konjunktur und Kapitalinteresse - verstärkter oder abgeschwächter auftritt und von den Einwanderungsstaaten dementsprechend reglementiert wird. In der Begründung dieser Resolution kommt der falsche Grundgedanke noch klarer zum Ausdruck. Es wird von "künstlicher Auswanderung breiter Massen der Bevölkerung" die durch "die Regierungen provoziert werden" gesprochen und die Illusion geschürt, "die Massenauswanderung kann nur durch durchgreifende Reformen bekämpft werden, die die einzelnen Länder wirklich zu einem Vaterland für die werktätige Masse des Volkes machen." Genau das war der reformistische Grundirrtum. Die durch Elend und Verarmung hervorgerufene Auswanderung ist unausweichliche Begleiterscheinung des Imperialismus wie die Erwerbslosigkeit. Nur durch die sozialistische Revolution, nur durch die demokratische und antiimperialistische Revolution in den abhängigen Ländern werden die Voraussetzungen geschaffen, daß die werktätigen Massen nicht mehr ihre Länder wegen Hunger und Not verlassen müssen.

Diesem schon reformistisch angekränkelten Entwurf auf dem Amsterdamer Kongreß stand ein offen chauvinistischer gegenüber. Der Minderheitenentwurf, bezeichnenderweise von den holländischen, amerikanischen und australischen Delegationen vorgelegt, enthält auch die allgemeine Phrase "Der Kongreß verurteilt daher jede Gesetzesmaßregel, welche die Einwanderung fremder Arbeiter, die das Elend zur Auswanderung zwingt, verbietet oder verhindert." Allerdings stellt er schon im nächsten Satz konkret rassistisch die Forderung nach einem Einreiseverbot für "Arbeiter rückständiger Rassen (wie Chinesen, Neger usw.)" In der Diskussion wird diese Position von Hilquitt/Amerika offen chauvinistisch damit begründet, daß man "einen Unterschied zu machen (habe) zwischen Arbeitern zivilisierter Länder und unzivilisierter". Und weiter "Deshalb haben die amerikanischen Gewerkschaften sämtlich das Verbot der Chinesenaufnahme. Das mag reaktionär klingen, ist aber unabweislich, wollen wir nicht die ganze Arbeiterbewegung zugrunde richten, denn es ist ein Lebensinteresse unserer Arbeiterbewegung, die Kulis und Neger fernzuhalten". ("Protokoll", S. 53)

Hier wird erschreckend offensiv unter dem Vorwand "Verteidigung der Gesamtinteressen der amerikanischen Arbeiterbewegung" die rassistische Ausgrenzung eines Teils - und zwar die Unterdrücktesten und Ausgebeutesten - verfochten.

Es gibt einen schwachen Protest gegen diesen triefenden Chauvinismus: "Nicolas Klein protestiert im Namen der Minderheit der amerikanischen Delegierten gegen diese Auffassung, die dem Satze: ’Proletarier aller Länder vereinigt Euch’ und der ganzen sozialistischen Gedankenwelt widerstreite. Kulis seien auch Menschen, auch Arbeiter und hätten das selbe Recht wie die andern." (ebenda, S. 52)

Es kommt zu keiner Einigung und der Kongreß nimmt keine der Resolutionen an, sondern vertagt "diese offenbar noch nicht gründlich genug vorbereitete Frage" auf den nächsten, den 1907 stattfindenden, Stuttgarter Kongreß.

Vor diesem Kongreß wurde die Ein- und Auswanderungsfrage in der Presse eingehend debattiert. Die Positionen kristallisierten sich heraus. Gegenüber standen sich die revisionistische, letztendlich die Kolonialpolitik der Imperialisten verteidigende, die Ein- und Auswanderungspolitik der imperialistischen Regierungen unterstützende Position und die revolutionäre Position, die die Fahne des proletarischen Internationalismus verteidigte.

In der Zeitschrift "Die Neue Zeit" (Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie, die zwischen 1883 und 1923 herausgegeben wurde.) werden in Vorbereitung des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale und des vierzehn Tage nach diesem stattfindenden Essener Parteitages der SPD viele Artikel zu dieser Frage abgedruckt. In einem Vorwort, getitelt mit: "Die Lohndrücker des Auslandes und die Internationale", wird dazu seitens der Redaktion bemerkt:

"Das Material könnte wohl auch dahin vervollständigt werden, daß auch die Anschauungen der ersten Internationale mitzuteilen wären. War doch diese nicht zum wenigsten gerade dazu gegründet worden, den schädlichen Wirkungen der Konkurrenz ausländischer niedriger Löhne auf die englischen Arbeiterverhältnisse entgegenzuarbeiten und die Herabdrückung der Löhne durch Einwanderung bedürfnisloser Arbeiter hintanzuhalten. Es fiel aber der Internationale und ihrem von Marx beeinflußten Generalrat nie ein, das Heilmittel dagegen im Kampfe der Arbeiter des höher stehenden Landes gegen die des rückständigen, in Einwanderungsverboten und Schikanierungen der Ausländer und ähnlichen Produkten eines zünftigen Monopolgeistes zu sehen. Sie verfiel auch nicht der Illusion, der Klassenkampf des Proletariats könne dadurch gefördert werden, daß man die unterdrückenden Befugnisse der Staatsgewalt, also seines Gegners gegen einen Teil des Proletariats vermehre. Sie sah nur ein wirksames, mit den dauernden Klasseninteressen des Gesamtproletariats und seinem Emanzipationskampf vereinbares Mittel: die internationale Solidarität der Arbeiter, ihre gegenseitige Unterstützung, die Hebung der rückständigen Arbeitermassen durch die Hilfe der vorgeschrittenen.

("Die Neue Zeit", 1906/1907, Bd. 2, S. 511)

Es wird in diesem von der Redaktion gezeichneten Artikel weiterhin dargelegt, daß Marx und die I. Internationale unter den ArbeiterInnen die Einsicht verankert haben, daß das Proletariat kein Vaterland hat, und daß es sich nur durch die Organisierung in der Internationalen Arbeiterassoziation gegen die Versuche der Kapitalisten sie bei gerechten Streiks etc. durch den Einsatz von ausländischen Arbeitern mit niedrigeren Löhnen etc. kleinzukriegen, wehren könne. Es wird geschildert, daß die Internationale Arbeiterassoziation überall auf dem Kontinent für den Aufbau von Gewerkschaften kämpfte. Um Streikbruch durch importierte ausländische Arbeiter zu verhindern, hatte die Internationale Arbeiterassoziation die Aufgabe übernommen, den englischen Arbeitern Mitteilungen vom Ausland zukommen zu lassen, und auf dem Kontinent wahrheitsgetreue Schilderungen über Streiks etc. zu veröffentlichen. Diese verhinderten, daß ausländische Arbeiter als Streikbrecher/Lohndrücker eingesetzt werden konnten. So hatten z.B. das Pariser Komitee während der Streiks der englischen Zinkarbeiter etc. französische Arbeiter über den wahren Inhalt ihres geplanten Einsatzes in England aufgeklärt und verhindert, daß diese sich nach England begeben. Und weiter wird als Lösung aufgezeigt:

"‘Dem beständigen Geschrei der britischen Kapitalisten, daß die längere Arbeitszeit und die geringeren Löhne der kontinentalen Arbeiter eine Lohnherabsetzung unvermeidlich machten, kann man nur durch das Streben erfolgreich begegnen, die Arbeitszeit und Lohnhöhe durch ganz Europa auf das gleiche Niveau zu bringen. Das ist eine der Aufgaben der Internationalen Arbeiterassoziation’.

Also nicht Einwanderungserschwerungen für freie Arbeiter -der Kampf gegen Kontrakt und Schuldsklaverei gehört in ein anderes Kapitel- ebensowenig wie Schutzzölle zur Fernhaltung von Waren, die von bedürfnislosen Arbeitern produziert werden beide Maßregeln entstammen demselben Gedankengang und sind eng miteinander verwandt, nichts von alledem forderte der Generalrat, also auch Marx, zum Schutze der englischen hohen Löhne und kurzen Arbeitszeiten, sondern das Erringen derselben Löhne und derselben Arbeitszeiten durch Gewerkschaften und Arbeiterschutz in allen kapitalistischen Ländern.

Das ist in der Tat die einzige Methode, die Erungenschaften günstiger gestellter Teile des internationalen Proletariats sicherzustellen. Sie werden stets gefährdet sein, solange sie nur einer Minderheit gehören, und um so mehr gefährdet sein, je tiefer dieser Minderheit gegenüber die Mehrheit der proletarischen Massen steht. Das gilt für die Massen innerhalb eines Landes wie für die des gesamten Weltmarktes. Durch Solidarität, durch Unterstützung der Zurückgebliebenen, nicht durch Exklusivität, durch Abschließung und Niederhaltung dieser kann ein vorgeschrittenes Proletariat sich behaupten. Wo es unter dem Einfluß kurzsichtiger Zünftlerei der letzteren Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichsten Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes".

("Die Neue Zeit", 1906/907, Bd 2 , S. 51l- 512)

Obwohl die ‘Neue Zeit’ richtige Ausgangspunkte in der Frage der Migration von der I. Internationale übernahm, entwickelte sie diese nicht auf die Höhe der neuen Bedingungen des Imperialismus. Die neuen sich immer schon stärker ankündigenden Erscheinungen und Wesenszüge des Imperialismus, die Bedeutung der Arbeiteraristokratie, die negativen Auswirkungen der "Besserstellung" eines Teils der ArbeiterInnen, die verschärfte Ausbeutung der immigrierenden ArbeiterInnen werden nicht gesehen. Die Positionen der I. Internationale werden und das auch verkürzt und einseitig übernommen und auf die Bedingungen des Imperialismus schematisch angewandt.

Darüberhinaus werden in der "Neuen Zeit" auch seitenweise unkommentiert chauvinistische, ja rassistische Positionen abgedruckt. Viele der damals geäußerten Argumente gegen die uneingeschränkte Beschäftigung ausländischer Arbeiter werden heute von SPD, den Grünen und Gewerkschaftsbonzen haarklein genauso vertreten. Alles was heute an Chauvinistischem in dieser Frage aufgetischt wird, von "Standort sichern", "Inländerprimat", bis zu "Lohndrückern, die den deutschen Arbeitern die Arbeit wegnehmen" etc. etc. ist nichts Neues. Alles sind alte Argumente, die seitens der Opportunisten und Sozialchauvinisten in der Sozialdemokratie schon Anfang des 20. Jahrhunderts angeführt wurden.

Auch wenn es teilweise widerlich ist diesen Chauvinismus zu lesen, wollen wir doch einige Beispiele im nachfolgenden Kasten anführen. Einmal um zu zeigen, daß sich die Argumente nicht verändert haben, und zum anderen wie die Opportunisten die chauvinistischen Argumente verklausuliert haben, sich als Internationalisten ausgaben und sich als angebliche Verteidiger der Interessen der Migranten hingestellt haben. Das machen die "Ausländerfreunde" von den Grünen und in den DGB-Gewerkschaften ja auch heute noch genauso. Auf der anderen Seite ist es wichtig zum Verständnis für die geschichtliche Entwicklung zu sehen, in welchem Ausmaß der Chauvinismus sich in der deutschen Sozialdemokratie schon Anfang des 20. Jahrhunderts breit gemacht hatte. So daß letztlich dann auch nachvollziehbar wird, wie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands auf dem Stuttgarter Kongreß 1907 zum Vorreiter des internationalen Opportunismus werden konnte.

*"Der Stuttgarter Kongreß"

Der Stuttgarter Kongreß der II. Internationale 1907 war ein Ringen zwischen Opportunismus und revolutionärer Sozialdemokratie in allen zentralen Fragen. Seine Beschlüsse hatten empfehlenden und nicht beschließenden Charakter für die Mitgliedsparteien. Die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie waren "in den meisten Fragen und Kommissionen" auf dem Kongreß - wie Zetkin formulierte - "Wortführer des Opportunismus". (Clara Zetkin, AW, Bd. I, S. 365)

Ein ganz zentraler Tagesordnungspunkt des Kongresses war die Haltung der Sozialisten zur Kolonialpolitik. Da die Stellung zur Migration und zu den Einwanderern sehr eng mit der Frage "wie halte ich es als Sozialist mit der Kolonialpolitik" verbunden ist, gehen wir auch kurz auf die Diskussion der Kolonialfrage auf diesem Kongreß ein.

Die Kolonialfrage auf dem Kongreß

Die meisten Delegierten aus entwickelten kapitalistischen Ländern (Europa und Amerika) stellten sich in dieser Frage auf einen offen chauvinistischen, auf die kolonialisierten Völker herabblickenden überheblichen rassistischen Standpunkt, indem sie zwar die krassesten Auswüchse der kapitalistischen Kolonialpolitik ablehnten, sich aber nicht grundsätzlich gegen jegliche Kolonialpolitik aussprachen, sondern in ihrem Resolutionsentwurf forderten: "Er (der Kongress A.d.V.) verwirft aber nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischen Regime zivilisatorisch wird wirken können." ("Internationaler Sozialisten Kongreß in Stuttgart, 1907", Nachdruck in "Beiträge des Sozialismus und der sozialen Bewegungen in Süddeutschland", Bd. 1, S. 24) Vertreter dieser Politik verkündeten in ihren Reden, daß die Kolonialpolitik auch eine Kulturtat sein kann, da sie zivilisatorisch wirken könne. Es sei die Aufgabe der Sozialdemokraten in den Parlamenten auf die Kolonialpolitik der Kapitalisten Einfluß zu nehmen, also ein "positives Kolonialprogramm" zu entwickeln. Einer der extremsten Vertreter dieser Position war Van Kol, Vertreter der holländischen Kolonialmacht, der in seiner Schlußrede begründete, warum auch die Sozialisten mit Waffengewalt Kolonialpolitik betreiben müßten:

"Wir sollten die Maschinen und Werkzeuge nach Afrika bringen! Büchertheorie! Damit will er (Kautsky A.d.V) das Land zivilisieren! Wenn wir nun eine Maschine zu den Wilden Zentralafrikas bringen, was werden sie damit tun? Vielleicht werden sie einen Rundtanz darum aufführen (Große Heiterkeit) oder auch die große Zahl ihrer Abgötter um einen vermehren (Heiterkeit). Vielleicht sollen wir auch noch Europäer hinschicken, die die Maschinen treiben. Was die Eingeborenen mit ihnen machen würden, weiß ich nicht. Aber vielleicht machen Kautsky und ich den Versuch, vielleicht gehen Theorie und Praxis Arm in Arm mit den Werkzeugen und Maschinen in das wilde Land. Vielleicht werden die Eingeborenen unsere Maschinen zerschlagen, vielleicht werden sie uns auch totschlagen oder sogar fressen und dann (sich über den Bauch streichend) fürchte ich, daß ich vor Kautsky den Vorrang habe. (Heiterkeit) Wenn wir Europäer mit Werkzeugen und Maschinen dahin kommen, wären wir die wehrlosen Opfer der Eingeborenen. Deshalb müssen wir mit Waffen in der Hand dort hinkommen, auch wenn Kautsky das Imperialismus nennt." ("Internationaler Sozialisten Kongress in Stuttgart, 1907" Nachdruck in "Beiträge des Sozialismus und der sozialen Bewegungen in Süddeutschland", Bd. 1, S. 37)

Den Opportunisten gelang es auf dem Kongreß jedoch noch nicht ihren Entwurf durchzubringen. Der Antrag der revolutionären Linken, den oben zitierten Satz bezüglich der sozialistischen Kolonialpolitik aus der Resolution zu streichen und in die Resolution eine noch schärfere Verurteilung der Kolonialpolitik als im Resolutionsentwurf der Kommissionsmehrheit mit aufzunehmen, wurde nach heftigen Diskussionen mit 127 Stimmen gegen 108 Stimmen bei einer Stimmenthaltung von 10 Stimmen angenommen. Ausschlaggebend für die Ablehnung des Antrages der Opportunisten waren die Stimmen der Delegierten der kleinen, selbst keine Kolonien besitzenden oder aber selbst kolonialisierten Länder. Auch wenn diese Resolution immer noch einen Kompromiß bedeutete, so enthielt sie doch eine grundlegende Kampfansage an jede Form des Kolonialismus. Die Delegierten der selbst Kolonialpolitik betreibenden Länder stellten sich mehrheitlich auf den Standpunkt des Opportunismus.

"Die kleinen Nationen, die entweder keine Kolonialpolitik treiben, oder aber unter ihr leiden, überwogen in ihrer Gesamtheit diejenigen Staaten, die sogar das Proletariat in gewissem Grad mit der Sucht nach Eroberung angesteckt hatte." (Lenin, "Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart" LW, Bd. 13, S. 74)

Wir haben die Haltung zur Kolonialpolitik hier dargelegt, weil wir denken, daß die chauvinistische opportunistische Haltung, die ein Großteil der Delegierten der entwickelten kapitalistischen Länder gegenüber den vom Imperialismus kolonialisierten Nationen einnahm, sich natürlich auch in der Frage "Haltung zu den Einwanderern" widerspiegelt. "Sozialisten", die sich chauvinistisch zu den Völkern der Kolonien verhalten, werden in der Frage "wie stehe ich zu den ausländischen ArbeiterInnen in meinem Land" sicherlich keinen proletarisch-internationalistischen Standpunkt einnehmen. Der "Einwanderungsfrage" wurde jedoch auf dem Kongreß im Verhältnis zu der Kolonialfrage und anderen Tagesordnungspunkten nicht so große Bedeutung beigemessen. Dementsprechend traten die Meinungsunterschiede zwar klar zu Tage, wurden jedoch nicht mit der gleichen Vehemenz diskutiert wie die Kolonialfrage.

Die Ein- und Auswanderungsfrage auf dem Kongreß

Auf dem Kongreß wurde in einem gesonderten Tagesordnungspunkt "Die Ein- und Auswanderung" debattiert. Die Frage wurde ebenfalls in einer speziellen Kommission vorbereitet und vordebattiert. Die Diskussion auf dem Kongreß selbst fällt aufgrund von Zeitmangel sehr kurz aus. So erhält z.B. die russische Delegation keine Wortmeldung.

Es gelang den Opportunisten nicht ihre Position durchzudrücken, die sich für Beschränkungen und Verbote der Einwanderung aussprach, und die Privilegien der einheimischen Arbeiterklasse auf Kosten der Einwanderer verteidigte.

Die revolutionäre Position konnte sich durchsetzen.

Der Kongreß verabschiedete eine Resolution (Siehe Kasten links im vollen Wortlaut), die sich gegen die "Ausschließung bestimmter Nationen und Rassen von der Einwanderung" wandte, und die "Abschaffung aller Beschränkungen welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren," forderte.

Lenin schätzt die Debatte in den Kommissionen (die während des Kongresses die Themen vordiskutierten und Resolutionsentwürfe verfaßten), auf dem Kongreß und die Resolution selbst in dem Artikel "Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart" so ein:

"Über die Resolution zur Aus- und Einwanderungsfrage wollen wir nur einige Worte sagen. Auch hier wurde in der Kommission versucht, zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus den rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger "zivilisierter" Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongreß selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spießbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie." (Lenin, "Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart", LW, Bd. 13, S. 77)

Und Clara Zetkin bewertet die Debatte wie folgt:

"Die fünf Gegenstände, auf die sich der Stuttgarter Kongreß in seinen Verhandlungen beschränkt hat, waren: die Kolonialpolitik, der Militarismus, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, die Ein- und Auswanderung und das Frauenwahlrecht. In allen diesen Fragen kam ein Gegensatz der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung zum Ausdruck, und der Meinungskampf in den einzelnen Kommissionen sowie im Plenum des Kongresses war ein treues Spiegelbild des Widerstreits der verschiedenen Tendenzen, der das Innere der modernen Arbeiterbewegung in allen Ländern aufwühlt, zur Selbstkritik und zur Vertiefung der sozialistischen Auffassung führt. … Ein nahe verwandtes Problem (der Kolonialpolitik verwandt. Zu diesem Punkt nimmt Zetkin als erstes in ihrer Rede Stellung. A.d.V.) hatte die Frage der Ein- und Auswanderung aufgerollt. Auch hier entstand der unbedingten Klassensolidarität der Proletarier aller Länder und Rassen eine Gegnerin in der kurzsichtigen Politik, die Lohninteressen organisierter Arbeiter in den Einwanderungsländern, wie Amerika und Australien, durch Einwanderungsverbote gegen rückständige, angeblich ‘nicht organisationsfähige’ Proletarier aus China und Japan schützen wollte. Es sprach aus dieser letzteren Tendenz derselbe Geist der Ausschließung und des Egoismus, der die alten englischen Trade Unions als eine Arbeitereraristokratie in Gegensatz zu der großen Masse der vom Kapitalismus am brutalsten ausgebeuteten und herabgedrückten Klassengenossen gebracht hatte. Der Kongreß hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt hat". (Clara Zetkin, "Der Internationale Sozialistenkongreß zu Stuttgart", Artikel in der Zeitschrift "Die Gleichheit", Bd. 1, S. 360-362)

Wir denken, daß angesichts der Tatsachen, daß auf dem Stuttgarter Kongreß der II. Internationale der Opportunismus und Chauvinismus so stark vertreten war, daß die europäische Arbeiterbewegung sich -und das in einem nicht geringen Maß- vom Chauvinismus der herrschenden Klassen hatte anstecken lassen (siehe Kolonialdebatte); und z. B. die "deutsche Sozialdemokratie, die bisher stets die revolutionäre Auffassung im Marxismus vertreten hatte, diesmal schwankte oder sich auf einen opportunistischen Standpunkt stellte" (Lenin, "Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart", LW, Bd. 13, S. 83) es als ein wichtiger Erfolg der Kommunisten zu sehen ist, daß dieser Beschluß in der Einwanderungsfrage gefaßt wurde. So spricht sich der zweite Paragraph der Resolution, klar gegen eine "Beschränkung der Freizügigkeit" und den "Ausschluß fremder Nationalitäten oder Rassen" aus. Und die Resolution fordert desweiteren die "Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren, weitestgehende Erleichterung der Naturalisation." Diese Festlegungen waren gegen die Chauvinisten und Opportunisten gerichtet, und gaben den KommunistInnen eine Grundlage, auf der sie für den proletarischen Internationalismus, für den Zusammenschluß aller ArbeiterInnen gleich welcher Nationalität in der Praxis kämpfen konnten. Das ist auch die Seite der Resolution, die Lenin und Clara Zetkin hervorheben, wenn sie davon reden, daß der Beschluß den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie entspricht. Auf der anderen Seite ist aber der Ausgangspunkt der Resolution das Interesse der ArbeiterInnen der imperialistischen Länder, so wird nur von den "Schwierigkeiten" des Proletariats der "auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Länder" gesprochen. Die Frage der Arbeiteraristokratie, die Frage der besonders rechtlosen Situation der immigrierenden Arbeiter wird überhaupt nicht erwähnt.Darüberhinaus gibt es noch in dem zweiten Teil der Resolution konkrete Empfehlungen, die der Festlegung "Abschaffung aller Beschränkungen" unserer Meinung nach nicht entsprechen, ja direkt widersprechen. So heißt es in der Empfehlung von Maßnahmen für das Land der Einwanderung:

"1. Verbot der Aus- und Einfuhr derjenigen Arbeiter, welche einen Kontrakt geschlossen haben, der ihnen die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft wie ihre Löhne nimmt." Hier wird ausdrücklich nicht das Verbot von Kontrakten, die den Arbeitern die Möglichkeit der freien Verfügung über ihre Arbeitskraft und Löhne nehmen, gefordert, sondern das Verbot der Aus- und Einfuhr der Arbeiter, die einen solchen Kontrakt geschlossen haben. Und das waren z.B. in Deutschland so gut wie alle in der Landwirtschaft beschäftigten ausländischen ArbeiterInnen. Sie alle mußten um überhaupt eingestellt zu werden vor ihrer Einreise nach Deutschland einen Kontrakt abschließen, der konkret für einen Arbeitgeber galt, und in dem die Löhne festgelegt waren (es wurde ihnen also die Verfügungsmöglichkeit über ihre Arbeitskraft und ihre Löhne genommen). Im Klartext würde diese Empfehlung bezogen auf die Wanderung nach Deutschland zum damaligen Zeitpunkt nichts anderes bedeuten als das Verbot der Einreise aller Saisonarbeiter nach Deutschland. Das heißt also, daß einzelne Festlegungen der Resolution auch von den Chauvinisten in ihrem Sinne benutzt werden konnten. Während die KommunistInnen sich auf die Resolution berufend für Freizügigkeit, völlige Gleichstellung der ImigrantInnen einsetzten, konnten sich Chauvinisten und Opportunisten auf dieselbe Resolution beziehend das Verbot oder Einschränkungen von bestimmten Formen der Einwanderung fordern.

Das sind wichtige Fehler des Beschlusses und unserer Meinung nach Zugeständnisse an den Chauvinismus. Vielleicht war angesichts der Stärke der Opportunisten nur ein solches Kompromissdokument durchsetzbar. Aber angesichts der späteren Entwicklungen müssen wir heute sagen, daß der Beschluß so falsch war.

* Der Essener Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Kurze Zeit nach dem Stuttgarter Kongreß fand der Parteitag der SPD in Essen (15. - 21. September 1907) statt. Es werden auf dem Parteitag die Beschlüsse des Stuttgarter Kongresses nochmals diskutiert. Wie auf dem Stuttgarter Kongreß wird die Frage zur Ein- und Auswanderung im Verhältnis zu der Frage "Stellung der Sozialdemokraten zur Kolonialpolitik" sehr untergeordnet debattiert. Widersprüchliche Meinungen in der Frage Ein- und Auswanderung werden nicht vorgetragen. Kennzeichnend für diesen Parteitag ist, daß die Mitglieder, die auf dem Stuttgarter Kongreß in der Frage der Kolonialpolitik chauvinistische kolonialistische Ansichten verfochten, nun die Beleidigten spielen und sagen, wieso werden wir angegriffen und kritisiert, eigentlich gab und gibt es doch gar keine Differenzen, wir sind alle ein und derselben Meinung, alles ist doch nur ein Streit um Worte, (ob man nun sozialistische Kolonialpolitik sagt oder zivilisatorische Politik) ein Streit um des Kaisers Bart.

Karl Liebknecht führt in seiner Rede die Bedeutung der Resolution des Stuttgarter Kongresses zur Ein- und Auswanderung konkret für die Bedingungen Deutschlands aus. Er wendet sich gegen jegliche die Migranten diskriminierenden Ausnahmegesetze, und insbesonders gegen die "Ausweisebefugnis von mißliebigen Ausländern".

"lch habe mich zum Worte gemeldet, um einige Ausführungen über die Frage der Ein- und Auswanderung zu machen, die in der Diskussion etwas kurz weggekommen ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die eminente Wichtigkeit dieser Frage lenken. Ich habe viel Gelegenheit, die Misere der Einwanderer in Deutschland und insbesondere ihre Abhängigkeit von der Polizei zu beobachten, und ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Leute zu kämpfen haben. Ihre Vogelfreiheit sollte gerade uns deutsche Sozialdemokraten besonders veranlassen, uns mit der Regelung des Fremdenrechtes, besonders der Beseitigung der Ausweisungsschmach schleunigst und energisch zu beschäftigen. Es ist ja bekannt, daß die gewerkschaftlich organisierten Ausländer mit Vorliebe ausgewiesen werden. . .

Die Resolution des Stuttgarter Kongresses bestimmt auch über unsere Stellung zur Ausweisungsfrage, darauf sei hier nachdrücklich hingewiesen. Sie enthält unter Ziffer 3 des Minimumprogramms die Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalte im Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen....Die Kongreßresolution fordert also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, daß die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein. Die Beschäftigung mit der Wanderungsfrage ist ein Ruhmesblatt für den Internationalen Kongreß. Das Problem ist jedoch noch nicht entschieden, die Stuttgarter Resolution ist nur ein erster Schritt auf diesem Gebiet." (Liebknecht, Bd. 2, S. 72-73)

Der Essener Parteitag der SPD erklärt sich einstimmig mit den Stuttgarter Beschlüssen des Internationalen Sozialistenkongresses einverstanden, d.h. auch mit den Beschlüssen zur Kolonialfrage und zur Ein/Auswanderung.

Die wesentlichen Argumente in der internationalen Diskussion der sozialistischen Weltbewegung, die für einen revolutionären Standpunkt ausschlaggebend waren, lassen sich knapp so zusammenfassen:

a) Keinerlei Einwanderungsbeschränkungen, sondern Einfordern von internationaler Freizügigkeit für die ArbeiterInnen aller Länder im Kapitalismus

b) Kampf gegen jegliche Diskriminierung der eingewanderten ArbeiterInnen

c) Eintreten für die rechtliche Gleichstellung von inländischen und immigrierten Arbeitern

d) Aufklärung und Organisierung der immigrierten ArbeiterInnen.

Auf der anderen Seite standen in der Diskussion die Revisionisten und Opportunisten, die arbeiteraristokratisch die Frage der Ein- und Auswanderung nur unter dem Gesichtspunkt der Auswirkungen für das Proletariat der imperialistischen Länder und der rassistischen Spaltung der ArbeiterInnenklasse Vorschub leistenden chauvinistischen Haltung zu den immigrierten Arbeitern stellten.

Auch wenn auf dem Stuttgarter Kongreß und dem Essener Parteitag revolutionäre Beschlüsse gefaßt wurden, heißt das aber nicht, daß die opportunistischen, chauvinistischen Grundpositionen - was die Sozialdemokratie Deutschlands betrifft sogar der Mehrheit - zerschlagen wurden. Es gilt auch hier die Einschätzung, die Stalin in den Grundlagen des Leninismus insgesamt "für die Periode der verhältnismäßig friedlichen Entwicklung des Kapitalismus, sozusagen die Vorkriegsperiode" traf:

"Formal standen an der Spitze der II. Internationale ‘rechtgläubige’ Marxisten, die ‘Orthodoxen’ - Kautsky und andere. In Wirklichkeit aber verlief die Hauptarbeit der II. Internationale auf der Linie des Opportunismus."

Positionen, wie die von den opportunistischen Führern der sozialistischen Partei in Amerika, die direkt den Beschlüssen des Stuttgarter Kongresses widersprechende Forderungen aufstellten, wurden in der deutschen Arbeiterbewegung nicht so offen vertreten.

Lenin geht auf diese chauvinistischen Positionen der Sozialistischen Partei der USA in einem Brief an den Sekretär der ‘Liga für sozialistische Propaganda’ im November 1915 so ein:

"In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen ‘Jingo Sozialismus’ (als ‘Jingo-Pseudosozialisten’ bezeichnet Lenin die ‘Sozialisten’, die 1915 im 1.Weltkrieg für den "Verteidigungskrieg" eintraten, siehe LW, Bd. 21, S. 433, Anmerkung von TA) verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, daß die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongreß von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, daß niemand Internationalist sein und zugleich für derartige Beschränkungen eintreten kann. Und wir behaupten, daß Sozialisten in Amerika, besonders englische Sozialisten, die der herrschenden, also einer unterdrückenden Nation angehören, wenn sie sich nicht gegen jedwede Einwanderungsbeschränkung und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaiinseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten, daß solche Sozialisten in Wirklichkeit ‘Jingos’ sind." (Lenin, "An den Sekretär der ‘Liga’ für sozialistische Propaganda", LW, Bd. 21, S. 435)

Für das revisionistische Grundverständnis aller opportunistischen Vertreter in der II. Internationale gilt die Charakterisierung Stalins in der Kolonialfrage und - unserer Meinung nach - gleichfalls für die Migrationsfragen:

"Man konnte sich nicht entschließen, Weiße und Farbige, ‘Zivilisierte’ und ‘Unzivilisierte’ auf eine Stufe zu stellen. Zwei drei nichtssagende und süßsaure Resolutionen, die die Frage der Befreiung der Kolonien geflissentlich umgingen - das war alles womit die Führer der II. Internationale paradieren konnten. Jetzt (1924 A.d.V.) muß diese Zwiespältigkeit und Halbheit in der nationalen Frage als beseitigt angesehen werden. Der Leninismus hat dieses schreiende Mißverhältnis aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten, zwischen ‘zivilisierten’ und ‘unzivilisierten’ Sklaven des Imperialismus niedergerissen …" (Stalin, "Die Grundlagen des Leninismus", Bd.6, S. 122)

Während des 1. Weltkrieges:

Neben den starken revisionistischen Strömungen gab es in der deutschen Sozialdemokratie eine bedeutende Linke. Das führte dazu, daß auf fast jedem Kongreß gegen die Diskriminierung von ausländischen ArbeiterInnen protestiert wurde. Delegierte stellten Anträge, Flugblätter, Zeitungen und andere Publikationen in den Sprachen der ausländischen Arbeiter herauszugeben. Es wurde sich auf Kongressen z.B. gegen den Legitimationszwang ausgesprochen und gefordert den polnischen Arbeitern als den "meistunterdrückten in Preußen-Deutschland" mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit Beginn des 1. Weltkrieges trat die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie sowohl in der Partei als auch in der Gewerkschaft offen in das Lager der Bourgeoisie über. Sie unterstützten die eigene Bourgeoisie im imperialistischen Weltkrieg und wurden zu offenen Sozialchauvinisten. Die Politik des deutschen imperialistischen Staates gegenüber den immigrierten ArbeiterInnen wurde nicht nur nicht grundlegend angefochten, sondern im Gegenteil aktiv unterstützt.

Diese Haltung besitzt auch eine innere Logik. Die Mehrheit der Sozialdemokratie setzte sich für die "Vaterlandsverteidigung" im 1. imperialistischen Weltkrieg ein, stimmte für die Kriegskredite und war für den Sieg der eigenen Bourgeoisie im Krieg. Bei solch einer Haltung ist es klar, daß Maßnahmen, die von der Regierung und obersten Heeresleitung als "kriegsnotwendig" eingestuft wurden -darunter fielen auch Zwangsarbeit und Deportation von ausländischen Arbeitern- gar nicht, oder nur ganz flau kritisiert wurden.

Da die deutsche Sozialdemokratie über einen ausgedehnten Apparat von Organisationen, Presse und Kadern verfügte und damit den größten Einfluß auf die ArbeiterInnen ausübte und sich auf die Arbeiteraristokratie stützte, setzte sich die opportunistische, nationalistische, chauvinistische Linie auch in den Gewerkschaften durch.

Während des Krieges wurde bereits in Gewerkschaftszeitungen und auf Gewerkschaftskongressen über die Beschäftigung der ausländischen Arbeiter nach Beendigung des Krieges diskutiert. Offizielle Erklärungen und die auf Kongressen gefaßten Beschlüsse zeigen, daß eindeutig von den Resolutionen, die vor Kriegsbeginn von der revolutionären Sozialdemokratie gefaßt wurden, abgerückt wurde.

So wurde der am 10. Februar 1915 in Berlin tagenden Konferenz aller Gewerkschaftsrichtungen von der Generalkommission der Vorschlag unterbreitet, von der Regierung zu fordern, nach dem Krieg nur noch ausländische Arbeiter nach Deutschland kommen zu lassen, wenn alle deutschen Arbeiter einen Arbeitsplatz hätten, es also keine Arbeitslosigkeit mehr gebe.

In der Gewerkschaftszeitung und den "Sozialistischen Monatsheften" wurden hauptsächlich Beiträge veröffentlicht, die sich gegen den Gedanken des proletarischen Internationalismus und die Stuttgarter Resolution von 1907 aussprachen. Offen wurde z.B. in dem Organ der Bauarbeitergewerkschaft "Grundstein" eine Veränderung der Haltung der Gewerkschaften zu den ausländischen Arbeitern, eine "Neuorientierung" gefordert und die Stuttgarter Resolution als "überholt" bewertet. (Siehe Elsner/Lehman, "Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus 1900-1985", S. 100). Die Veränderung sollte beinhalten, Arbeitsplätze zuerst für Deutsche zu fordern!

Sowohl die Gewerkschaftskonferenzen 1916 in Leeds (mit Teilnehmern aus Frankreich, England, Belgien und Italien) und die internationale Gewerkschaftskonferenz in Bern sprachen sich zwar noch in allgemeinen Phrasen gegen Einwanderungsbeschränkungen in der Nachkriegszeit aus, vertraten aber konkret, daß jeder Staat das Recht habe, die Einwanderung "zum Schutz der Volksgesundheit" und "zum Schutz der Volkskultur" einzuschränken und eine "Mindestanforderung an Wissen und Kenntnisse der Einwanderer" zu stellen. (a. a. O. S. 99)

Fazit ist: All das zeigt, daß die Sozialdemokratie während des Krieges offen chauvinistisch war und sich vollständig von den marxistischen, revolutionären Positionen entfernt hatte.

Dem gegenüber kämpften die deutschen Linken unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegen den "Burgfrieden" mit dem "eigenen" Imperialismus. Sie prangerten die Kriegstreiber an und geißelten die imperialistische Kolonialpolitik des zu "kurz" gekommenen deutschen Imperialismus. Konsequenterweise traten sie für die Organisierung der immigrierten Klassenbrüder und -schwestern und für ihre Einbeziehung in den Kampf gegen Imperialismus und Militarismus ein.

In den Spartakusbriefen entlarvten sie die bürgerliche Lüge über die Lage der ausländischen Bevölkerung, wandten sich gegen Gefangenenarbeit, gegen den Zwangseinsatz polnischer ArbeiterInnen, gegen die "gewaltsame Einschleppung und Einspannung französischer Proletarier." (Liebknecht, "Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze", S. 349 und 447)

Bis zum 2.Weltkrieg/ Weimarer Republik

Die sozialdemokratische Partei bemühte sich um Klassenfrieden und Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie. Sie bezweckte, die Arbeiterklasse an das kapitalistische System zu binden. Dort wo sich die Sozialdemokratie an der Regierung beteiligte, hatte sie selbst mit Anteil an der restriktiven Ausländerpolitik in Deutschland.

Die internationalen Konferenzen der Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbeschlüsse in dieser Frage wurden von den konterrevolutionär gewordenen Sozialdemokraten maßgeblich mit beeinflußt. Einzelne Reformforderungen wurden natürlich noch aufgestellt, aber eben nicht revolutionär sondern reformistisch und entsprachen damit insgesamt der chauvinistischen, nationalistischen Politik der Herrschenden.

Die Konferenz des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) 1919 in Bern, die unter aktiver Mitwirkung reaktionärer deutscher Gewerkschaftsführer veranstaltet wurde, knüpfte an den Gewerkschaftskonferenzen 1916-1917 an und sprach sich in ihrem "Programm für internationale Arbeitsgesetzgebung an die Friedenskonferenz in Paris" gegen Ein- und Auswanderungsverbote aus. Aber so wie auch in den Konferenzen 1916/1917 wurde das Recht des Staates, "in Zeiten wirtschaftlicher Depression und zum Schutz der Volksgesundheit", die Einwanderung ganz zu untersagen oder zu regulieren hervorgehoben. Lese- und Schreibkenntnisse in der Muttersprache sollten eine Voraussetzung für die Beschäftigung ausländischer Arbeiter sein.

Auch die internationale Konferenz des IGB, die am 29. und 30. September 1924 in Prag tagte, sprach sich für eine Kontrolle der Ein- und Auswanderung aus. Sie schlug vor, daß eine Körperschaft, in der auch gewählte Arbeitervertreter sitzen, die Migration regulieren sollte.

Nicht in allen Punkten konnte jedoch die internationalistische Haltung ohne auf Protest an der Basis zu stoßen beiseite geworfen werden. So forderte der Kongreß 1919 in Bern und 1924 in Prag noch "international die Gleichheit der Behandlung aller Arbeiter ohne Unterschied ihres Ursprungs zu erwirken". Das Ergebnis des Versuchs von der Basis kommende Forderungen nach internationalistischen Positionen mit den eigenen opportunistischen zu vereinbaren, waren total schwammige Beschlüsse, wie z.B. auf dem Weltwanderungskongreß (1926, London), der von dem IGB und der sozialistischen Arbeiterinternationale (SAJ) einberufen wurde. Dort wurde - mit opportunistischer Meisterleistung - in einem Satz sowohl das Prinzip der Freizügigkeit, als auch das Recht aus wirtschaftlichen Gründen die Einwanderung vorrübergehend zu verhindern, eingefordert. Diesen Kongreß schätzt ein Autor der Roten Gewerkschaftsinternationale so ein:

"Nachdem er nun einberufen war, haben die Ereignisse desselben den internationalen Reformismus eine ungeheure Strecke zurückgeworfen, selbst im Vergleich mit den Resolutionen der II. Internationale vor dem Kriege. Im Jahre 1907 nahm der Stuttgarter Kongreß … eine Resolution an… Die Beschlüsse des Londoner Kongresses erscheinen im Vergleiche damit als gewaltiger Schritt rückwärts." (Rote Gewerkschafts Korrespondenz, Moskau 1930, S. 550)

Also das ‘Inländerprimat’ stand bei den Beschlüssen der Gewerkschaften Pate. Die Gewerkschaften selbst wollten bei der Kontingentierung der Einwanderer mitwirken. Sie vertraten die Positionen der ‘privilegierten einheimischen Arbeitskräfte’ bis hin zu der Forderung nach nationaler Abgeschlossenheit nach außen, um somit die Konkurrenz zu minimieren und den eigenen Status zu verteidigen. Dies alles entsprach der Ideologie der reaktionären Sozialdemokratie, die in ausländischen Arbeitern nicht Kampfgenossen, sondern in erster Linie Konkurrenten und Lohndrücker sahen.

Ausnahmegesetze für Ausländer, die von der revolutionären Sozialdemokratie immer bekämpft wurden, wurden von sozialdemokratisch geführten Regierungen gefordert und praktiziert wie Karenzzwang, Legitimationszwang, Saisonarbeiterstatus und Ausweisepraxis. Insbesonders die reformistische Führung des deutschen Landarbeiterverbandes unterstützte aktiv diese restriktive Ausländerpolitik.

"Die ILF (Internationale Landarbeiter- Föderation A.d.V.) steht grundsätzlich auf dem Standpunkt der Freizügigkeit aller Arbeiter. Die Beschäftigung ausländischer Arbeiter darf jedoch nicht den sozialen Fortschritt der einheimischen Arbeiter hindern. Ausländische Arbeiter dürfen nur dann in einer Zahl beschäftigt werden, die den dringenden Bedürfnissen der einheimischen Wirtschaft entspricht." (Einstimmig angenommener Beschluß des 3. Kongreß der ILF 1924 in Berlin, zitiert in Elsner, S. 148-149)

Die Sozialdemokraten traten nicht mehr gegen nationalistische Hetze auf, sondern übernahmen selbst die Argumente der Bourgeoisie. So wurde argumentiert, daß Lohnüberweisungen ins Ausland Gewerbe, Handel und Handwerk in Deutschland schädigten, daß es ein "Skandal ohnegleichen" sei, daß bei "zwei Millionen deutschen Arbeitslosen 400.000 ausländische Landarbeiter beschäftigt" würden. Die Ausländerbeschäftigung sei aus "nationalen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, sowie aus schwerwiegenden kriminalistischen Gründen" abzulehnen. (Otto Hörsing, zitiert in Elsner, S. 150)

Diametral im Gegensatz dazu war die Haltung der KommunistInnen. Sie kämpften sowohl gegen die rassistische Ausländerpolitik des Staates, als auch gegen die chauvinistischen rassistischen Auffassungen, die aufgrund des Verrats der Sozialdemokraten immer stärker Einfluß in der Arbeiterklasse fanden. Die KommunistInnen bekämpften auf vielfältige Weise die nationalistische Hetze, vor allem indem sie den gemeinsamen Kampf entsprechend der gemeinsamen Klasseninteressen der aus- und inländischen ArbeiterInnen organisierten. Ein Beispiel dafür war die Politik der 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands unter den polnischen und deutschen Landarbeitern.

Die Kommunistische Internationale / die Rote Gewerkschaftsinternationale

Hinsichtlich der internationalen revolutionären Gewerkschaftsbewegung, die nach der Trennung von den Revisionisten und Opportunisten erstarkte, wurde bei den Kommunistischen Parteien wie auch bei den Kongressen der Kommunistischen Internationale die Haltung zur Migration immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Entscheidender Ausgangspunkt war die Überzeugung, daß die imperialistische Herrschaft die ArbeiterInnen zur Wanderung zwingt und sie in den Einwanderungsländern unter verschärftesten Bedingungen ausgebeutet und unterdrückt werden. Es wurde ein scharfer ideologischer und politischer Kampf gegen den Chauvinismus unter den inländischen ArbeiterInnen aufgenommen. Selbstverständlich wurde auch benannt wie die Kapitalisten und Großgrundbesitzer versuchten, die immigrierten ArbeiterInnen bzw. die SaisonarbeiterInnen zum Drücken der Löhne und zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse zu benutzen. Aber - und das war der fundamentale Unterschied zur zweiten Internationale - das wurde nicht als "Schwäche" des "kulturell minderwertigen immigrierenden Arbeiters" hingestellt, sondern als objektive Funktion dargelegt, die die Bourgeoisie ihm zugedacht hat. Diese Funktion kann nur durchkreuzt werden -so die III. Internationale- wenn vor allem das inländische Proletariat den Kampf um gleiche Rechte für die ausländischen Arbeiter aufnimmt und sich mit ihnen internationalistisch verbindet. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit der politischen Bewußtmachung und Organisierung der ausländischen ArbeiterInnen propagiert und angepackt.

Stellvertretend sei hier der Beschluß des Exekutivkommitees der KI von 1928 angeführt:

"11. Gewinnung eingewanderter Arbeiter für die Gewerkschaften auf Grund der völligen Gleichberechtigung und entschiedener Kampf gegen die feindselige Haltung gegenüber den ausländischen Arbeitern. Gleichzeitig müssen die revolutionären Gewerkschaften durch die Erziehung ihrer Mitglieder unter den Einwanderern mit dazu beitragen, daß diese Arbeiter in einem Lande der Einwanderung nicht unorganisiert bleiben und nicht zu einem blinden Werkzeug in den Händen der örtlichen Unternehmer und der reformistischen Bürokratie werden." ("Resolution über die Gewerkschaftsfrage", Angenommen vom IX. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, 9. bis 25. Februar 1928, S. 274)

Die Rote Gewerkschaftsinternationale hat in Resolutionen auf ihrem

* 3. Kongreß (1924) "Die Aus- und Einwanderungsfrage";

* 4. Kongreß (1928) "Über die Ein- und Auswanderung" und

* 5. Kongreß (1930) Kongreß "Arbeit unter den ausländischen Arbeitern"

ihre Politik entwickelt.

Auf den nächsten Seiten dokumentieren wir die Resolution des V. Kongresses. Hervorheben wollen wir daran, daß hier eindeutig die Schaffung "einer Einheitsfront der einheimischen und ausländischen Arbeiter auf dem Boden eines gemeinsamen Schutzes der allgemeinen Interessen der gesamten Arbeiterklasse des betreffenden Landes sowie der speziellen Interessen der ausländischen Arbeiter" ("Die Kampfbeschlüsse des V. Kongresses der RGI", 1930 1. Teil, s. 52) gefordert wird.

Aktuell wird als Schwäche die "Mißachtung der speziellen Forderungen der Ausländer" angemahnt und festgehalten "ungenügend entwickelt ist der Kampf gegen die chauvinistischen Strömungen gegenüber den ausländischen Arbeitern".(Beschlüsse und Resolutionen der RGI, 1930, S.329)

In scharfer Abgrenzung zum Opportunismus und solchen Reformprojekten der II. Internationale wie sie auf dem Internationalen Kongreß für Arbeiteremigration entwickelt wurden betonte die RGI: "Der im Jahre 1926 von der Amsterdamer Internationale einberufene Internationale Kongreß für Arbeiteremigration zeigte mit aller Deutlichkeit, daß der Reformismus unfähig ist, diese Frage zu lösen, und durch seine Teilnahme an der Gesetzgebung des Internationalen Arbeitsamtes am Völkerbund faktisch in jedem Lande besonders die Bestrebungen und die ausbeuterischen Gepflogenheiten des bürgerlichen Nationalstaats unterstützt. Die Illusion von der Möglichkeit einer bürgerlich kapitalistischen Regelung des Auswandererstroms, die von den Reformisten bei den Arbeitermassen erweckt wird, muß entschieden ausgerottet werden. Die revolutionären Arbeiter sollen um unbeschränkte Aus- und Einwanderungsfreiheit der Arbeiter kämpfen, unter der Bedingung jedoch, daß diese Angelegenheiten von den gewerkschaftlichen Organisationen geregelt werden, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.

Die Anhänger der RGI müssen das feindselige Verhalten zu den Immigranten entschieden bekämpfen; sie müssen die eingewanderten Arbeiter für die Gewerkschaften gewinnen und sie in bewußte Vorkämpfer für die Sache der Arbeiterschaft verwandeln. Es genügt noch nicht, die gesetzgeberischen Einschränkungen zu bekämpfen, man muß auch das feindselige Verhalten zu den Immigranten unter den Arbeitermassen zu beseitigen suchen"(IV. Kongreß RGI, 1928, S.130/131)

Hier wird klipp und klar noch einmal mehr bekräftigt, daß die KommunistInnen für die freie Ein- und Auswanderung der Arbeiterinnen sind und wir der Bourgeoisie jegliches Recht auf irgendeine Reglementierung absprechen. Auf dem V. Kongreß wird das noch einmal bekräftigt:

"2. Der reformistischen Politik der ‘Einwanderungsregelung’ (Auslese, Beschränkungen, Verbote usw. ), die unter Beteiligung des Internationalen Arbeitsamtes betrieben wird, und ähnlichen Tendenzen, die sich sogar in den Reihen der revolutionären Gewerkschaften geltend machen, müssen die Anhänger der RGI den Kampf um völlige Freiheit der Aus- und Einwanderung, den Kampf um den Schutz der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Interessen der ausländischen Arbeiter entgegenstellen."(Die Kampfbeschlüsse des V. Kongresses der RGI, 1930 1. Teil, s. 52)

In den Presseorganen der Kommunistischen Internationale finden sich immer wieder Artikel zu diesem Thema, besonders aber in der Roten Gewerkschaftskorrespondenz. In diesen Artikeln werden die jeweils komplizierten neuen Entwicklungen analysiert und die verschiedenen konkreten politischen Auswirkungen und Konstellationen in Bezug auf die Migration dargelegt. So wird in einem Artikel 1930 mit dem Titel "Neue Erscheinungen auf dem Gebiet der Arbeiteremigration" auf folgende Entwicklungen verwiesen:

" * Neue Einschränkungen der Immigration

* Die einheimische Arbeiteraristokratie und die ausländischen ‘Parias’

* Die Faschisierung der Immigration und ihre Vorbereitung zum Krieg

* Sozialfaschisten und Emigration."

Im Abschnitt "Die einheimische Arbeiteraristokratie und die ausländischen ‘Parias’" wird anhand der Einwanderung in die europäischen Länder wie Frankreich, Belgien etc. der Prozeß der Arbeiterimmigration und ihre Funktion - unserer Meinung nach wie sie bis heute in die europäischen Länder, insbesondere einsetzend in den 60er Jahren, bestimmend ist - untersucht. So heißt es:

"In Frankreich schafft die Bourgeoisie in den letzten zwei Jahren bewußt eine Arbeiteraristokratie aus Franzosen und stellt sie der untergeordneten Masse der ausländischen Arbeiter und selbstverständlich auch den ungelernten französischen Arbeitern gegenüber. Nehmen wir eine beliebige Kohlengrube oder einen chemischen Betrieb in den Departements Nord und Pas de Calais, ein beliebiges Bergwerk oder ein Hüttenwerk in Lothringen, ein beliebiges Gut im Süden - überall sind die Posten der Leiter, Meister, Aufseher, der besser bezahlten Arbeiter fast ausschließlich mit Franzosen besetzt, die gewöhnliche Arbeitermasse des Betriebes jedoch besteht aus ausländischen Arbeitern: Polen, Italienern, Spaniern, Ungarn, Tschechoslowaken usw. Solche Beispiele kann man hier zu Hunderten anführen." (Rote Gewerkschaftskorrespondenz, S. 422)

Während der III. Internationale werden beispielhaft die grundlegenden Aufgaben der Kommunistischen Parteien wie auch der revolutionären Gewerkschaftsbewegung unter den Bedingungen der Herrschaft des Imperialismus in der Frage der Migration benannt und angepackt. Der Kampf gegen den Imperialismus, der Kampf gegen die besondere Ausbeutung und Unterdrückung der immigrierten ArbeiterInnen verbunden mit dem Kampf um die Gesamtinteressen des Proletariats, der Kampf gegen den vorherrschenden Chauvinismus in der einheimischen ArbeiterInnenklasse, und der notwendige Kampf gegen den Opportunismus, dem ideologischen Sprachrohr der Arbeiteraristokratie sind die zentralen Ausgangspunkte.

Die Organisierung der immigrierten ArbeiterInnen

Die Rote Gewerkschaftsinternationale und die Komintern wiesen in den einzelnen Ländern - je nach den besonderen sozialen und politischen Bedingungen daraufhin, daß für die Schaffung der gemeinsamen Kampffront zwischen den immigrierten und "einheimischen" ArbeiterInnen gegen das Kapital die gemeinsame Organisierung mit den immigrierten Arbeiter notwendig ist. Um der besonderen Situation: Sprache, Kultur und besondere Rechtlosigkeit der immigrierten Arbeiter gerecht zu werden, wurden verschiedene Organisierungsmodelle wie z.B. nationale Sektionen innerhalb eines Gewerkschaftsverbandes vorgeschlagen.

Die Organisierung der immigrierten ArbeiterInnen in den Kommunistischen Parteien der Herkunftsländer oder der Einwanderungsländer wurde in der Kommunistischen Internationale nur - soweit wir das Material bisher sichten konnten - für einzelne Länder ausdrücklich diskutiert. Selbstverständlich war der Ausgangspunkt damals, daß im Rahmen der einen Kommunistischen Weltpartei, der Kommunistischen Internationale, es in jedem Land eine Partei gab, die eine Sektion, d.h. ein Teil dieser Weltpartei war. Das bedeutete natürlich, daß die Zusammenarbeit, der Austausch von Kadern, die gegenseitige Unterstützung in der Organisierung, etc. natürlich in einem ganz anderen organisatorischen Rahmen stattfanden, als wenn es so wie heute nur einzelne Parteien in den jeweiligen Ländern gibt, die unabhängig und völlig selbständig in Beziehungen zu Parteien anderer Länder treten. Trotzdem kann man aufgrund dieser tatsächlich vorhandenen unterschiedlichen Organisationsstruktur damit die Erfahrungen der III. KI und der ihr zugrundeliegenden Prinzipien nicht einfach vom Tisch wischen. Wenn es z.B. als notwendig angesehen wurde, trotz der beiden existierenden Geschwisterorganistionen KPD und KAPP (Kommunistische Arbeiterpartei Polens) eine polnische Sektion in der KPD zu schaffen, dann ist das sicherlich eines Studiums wert, was die Gründe und Aufgaben für diese Sektion angeht. Anhand der polnischen Sektion der KPD möchten wir ein Beispiel dafür geben, wie sich in einem konkreten historischen Kampfabschnitt die Einheit der Proletarier der verschiedenen Nationalitäten - unter Berücksichtigung der besonderen Situation der immigrierten ArbeiterInnen - sich auch organisatorisch in der Kommunistischen Partei verwirklicht hat.

Die polnische Sektion der KPD

Die im Versailler Vertrag festgelegte Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen wurde von der deutschen Bourgeoisie und ihren sozialdemokratischen Handlangern für eine gemeine nationalistische und revanchistische Hetze ausgenutzt. Auch innerhalb der deutschen Arbeiterklasse kapitulierten viele vor dieser Hetze, und stimmten mit in diesen Chor ein. Zur gleichen Zeit schürte auch die polnische Bourgeoisie den bürgerlichen Nationalismus. In dieser Situation kämpfte die KPD gemeinsam mit der Kommunistischen Partei Polens unter den deutschen und polnischen Arbeitern Oberschlesiens. Sie führten einen Kampf zur Entlarvung des Nationalismus der Ausbeuterklassen und organisierten den gemeinsamen Kampf deutscher und polnischer Arbeiter. Anhand der eigenen Kampferfahrungen erläuterten sie, daß die Klasseninteressen sowohl der polnischen, wie auch der deutschen Arbeiter die gleichen sind, und für ihre Durchsetzung der gemeinsame internationalistische Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse notwendig ist.

Auch auf organisatorischer Ebene versuchte die neu gegründete Kommunistische Partei Deutschlands den Anforderungen des proletarischen Internationalismus gerecht zu werden. 1919 wird die polnische Sektion der KPD für die Organisierung unter den polnischen Werktätigen in Deutschland gegründet Entwickelt hatte sich diese polnische Sektion der KPD aus einer Gruppe polnischer Revolutionäre, die sich seit Anfang 1917 in Berlin gebildet hatte, um die verstreuten polnischen Revolutionäre, die in Berlin lebten zusammenzufassen und zu organisieren. Zu Beginn war die Haupttätigkeit dieser Gruppe die eigene politische Bildung. In illegalen Zusammenkünften wurde sich über die revolutionären Ereignisse in Russland informiert, und die brennenden Fragen von Krieg und Frieden, sowie die Perspektive des revolutionären Kampfes diskutiert. Dieser Zirkel entwickelte sich zu einem politischen Kern, der unter den in Berlin lebenden polnischen Arbeitern aktive revolutionäre Arbeit leistete. Viele Teilnehmer der Gruppe waren gleichzeitig Mitglieder der Spartakusgruppe. Organisatorisch stand sie mit der Leitung der Spartakusgruppe in Verbindung und setzte sich das Ziel eine Organisation zu gründen, deren Hauptaufgabe sie darin sah, Propaganda unter den aus den besetzten Gebieten Polens zugereisten Arbeitern zu machen. Ende Februar, Anfang März 1919 traf sich das Aktiv der polnischen Gruppe, und beschloß nach Diskussion der Dokumente des Gründungsparteitages der KPD beizutreten, die sie als "einzige Vertreterin der Interessen der deutschen Arbeiterklasse und der in Deutschland lebenden Werktätigen anderer Nationalitäten" anerkannte. Als spezifische Aufgabe der polnischen KommunistInnen sahen sie die "Propaganda unter den polnischen Arbeitern, um sie für die Revolution, für den Kampf gegen den polnischen Nationalismus und gegen den Einfluß der Klerikalen zu gewinnen". (D. Lederman, "Zur Geschichte der Polnischen Sektion", BzG 4. Jahrgang 1962, S. 933) Im Frühjahr 1919 beschloß die KPD dann eine polnische Sektion der KPD zu gründen. "Im Prozeß der Entwicklung wurden so die polnischen Kommunisten aus einer kleinen Gruppe, die die Parteipropaganda unter den polnischen Emigranten aus den besetzten Gebieten Polens zum Ziel hatte, zu einem Organ der KPD für die Arbeit unter den Werktätigen in Deutschland." (S. 933)

Diese Sektion entwickelte sich rasch und in engem Kontakt mit den örtlichen Organisationen der KPD wurden verschiedene illegal tätige Ortsgruppen so in Essen, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Leipzig und Stettin aufgebaut.

Ein sehr wichtiges Arbeitsgebiet war Oberschlesien, das eines der größten Industriegebiete war, mit einer stark gemischten polnischen und deutschen Arbeiterschaft. In Oberschlesien traten deutsche und polnische Arbeiter der KPD bei und bildeten Ortsgruppen. Um dem besonderen Status Oberschlesiens gerecht zu werden, wo dem Versailler Vertrag entsprechend eine Abstimmung unter der Bevölkerung über ihre Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen durchgeführt werden sollte, und das bis zu dieser Abstimmung unter der Oberhoheit einer interalliierten Kommission stand, schlossen sich die Ortsgruppen der KPD und der USDP, sowie die von linken Kräften der PPS gegründete Kommunistische Partei Oberschlesiens zu einer selbständigen Kommunistischen Partei Oberschlesiens zusammen. Diese Partei war bis zur Aufteilung Oberschlesiens zwischen Polen und Deutschland tätig. Nach der Teilung Oberschlesiens 1922 wird die KP Oberschlesien aufgelöst, bzw. die Organisation umgruppiert. Die kommunistischen Organisationen in den Bezirken Oberschlesiens, die Deutschland zugesprochen wurden, organisierten sich in der KPD, die aus den Bezirken, die zu Polen kamen in der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens KAPP (Etwa 3000 Mitglieder schlossen sich der KAPP, cirka 1000 der KPD an.) Dabei spielte die nationale Zugehörigkeit für die Mitgliedschaft überhaupt keine Rolle, sondern einzig und allein innerhalb welchem Staatsgebiet (deutschem oder polnischem) der deutsche bzw. polnische Kommunist lebte. Für die Arbeit unter allen Werktätigen polnischer Abstammung wurde es als wichtig erachtet, in polnischer Sprache propagandistische Parteiliteratur herauszugeben. Es erschienen in der Reihe "Kommunistische Bibliothek" fünf Broschüren in polnischer Sprache, die die polnischen Arbeiter mit den wichtigsten politischen Dokumenten der deutschen und internationalen revolutionären Bewegung bekanntmachten. Daneben erschienen zahlreiche Flugbätter, Aufrufe und Artikel in polnischer Sprache, die ausgehend von der ganz konkreten spezifischen Situation der polnischen Werktätigen Agitation und Propaganda machten. Konkrete Forderungen für die polnischen Werktätgen wurden gestellt, und es wurde aufgezeigt, daß die Interessen der polnischen Werktätigen gegen den deutschen Staat nicht von der polnischen Bourgeoisie vertreten werden. Weiter heißt es, daß nur die Kommunisten, in Deutschland die KPD, in Polen die KAPP (bzw. KPP) die Interessen aller ArbeiterInnen vertreten. Darum ist ein gemeinsamer Klassenkampf zum Sturz des Systems notwendig. Polnische ArbeiterInnen werden dazu aufgefordert in die Klassenorganisationen einzutreten. Es wird für die Unterstützung und Mitgliedschaft in der KPD, bzw. nach Rückkehr nach Polen in die KAPP geworben. Polnische Kommunisten und Werktätige kämpften Schulter an Schulter mit den deutschen Klassenbrüdern und -schwestern bei der Niederschlagung des Kapp Putsches, bei Operationen der proletarischen Roten Ruhrarmee gegen konterrevolutionäre Truppen im März 1920 und bei der Abwehr bewaffneter Polizeiprovokationen gegen die Arbeiter in Mitteldeutschland 1921. Die Klassenjustiz der Weimarer Republik ließ deutsche und polnische Arbeiter wegen ihrer kommunistischen Tätigkeit verhaften. Gegen sie wurden hohe Strafen verhängt. Viele polnische ArbeiterInnen, die sich an den Kämpfen beteiligt hatten, die mit der KPD zusammenarbeiteten, oder Mitglied der KPD waren, wurden deswegen aus Deutschland ausgewiesen.

1921 rief die KPD die deutschen ArbeiterInnen dazu auf, sich nicht vor den Karren des Nationalismus spannen zu lassen, die polnischen Arbeiter in ihrem Kampf gegen soziale und nationale Unterdrückung in Oberschlesien zu unterstützen, jede militärische Aufrüstung und damit den Ausbruch eines Krieges zwischen Deutschland und Polen zu verhindern.

Im Kampf gegen den Chauvinismus, Antisowjetismus und die Kriegshetze der herrschenden Klassen, als auch gegen den Nationalismus der Sozialdemokraten war es für die KPD sehr wichtig die polnische Minderheit in Deutschland aufzuklären und für ihre Rechte einzutreten, um sie für die Teilnahme am Klassenkampf zu gewinnen (die gleiche Aufgabe stellte sich die KPP bezüglich der deutschen Minderheit in Polen). Die gemeinsamen Interessen deutscher und polnischer ArbeiterInnen, die Notwendigkeit in gemeinsamen Klassenorganisationen zu kämpfen, wurden immer wieder betont.

Die Bezirksleitung Oberschlesien gab im September 1930 eine Erklärung zur Minderheitenfrage heraus, in der sie "die Gleichberechtigung der polnischen Sprache vor den Behörden, vor Gericht sowie in der Schule und das Recht der Werktätigen polnischer Nationalität auf die Erziehung ihrer Kinder in polnischer Sprache" forderte. ("Dokumente und Materialien zum gemeinsamen Kampf der revolutionären deutschen und polnischen Arbeiterbewegung 1918-1939", Diez Verlag Berlin, S. 17) Diese Forderungen richteten sich gegen die von der SPD unterstützten Germanisierungsbestrebungen der herrschenden Klasse.

Unter den zehntausenden landwirtschaftlichen Saisonarbeitern, die jedes Jahr von Polen nach Deutschland kamen, entfachte die KPD eine umfangreiche zweisprachige Agitation und Propaganda um diese Arbeiter für den Klassenkampf sowohl mit den deutschen Landarbeitern gegen die Großgrundbesitzer, als auch gegen ihre Ausbeuter in Polen zu gewinnen.

Die KPD beriet die Saisonarbeiter in Rechtsfragen, unterstützte sie gegen Schikanierungen der Gutsherren und des preußischen Staates. Ein gemeinsamer Kampf deutscher und polnischer Arbeiter für gleiche politische und wirtschaftliche Rechte, gegen Kriegsvorbereitung und Faschismus wurde organisiert.

In einem Aufruf der KPD "An die polnischen Saisonarbeiter in Deutschland zum gemeinsamen Kampf mit den deutschen Landarbeitern" von 1927 heißt es:

"Menschenwürdige Behandlung, bessere Löhne, gesündere Wohnverhältnisse, kürzere Arbeitszeit könnt ihr nur in gemeinsamer Front mit euren deutschen Arbeitsbrüdern auf den Gütern erreichen. … Werdet Mitglied des Deutschen Landarbeiterverbandes." (Dokumente und Materialien zum gemeinsamen Kampf der revolutionären deutschen und polnischen Arbeiterbewegung 1918-1939 S.142)

Vielerorts nahmen polnische Landarbeiter aktiv an dem Kampf gegen die Gutsbesitzer teil. Davon zeugen mehrere gemeinsame Streiks deutscher und polnischer Landarbeiter.

Die Rote Fahne wandte sich in verschiedenen Artikeln gegen die Verhetzung der deutschen Arbeiter durch Behauptungen wie "Schuld an Erwerbslosigkeit sei der Import polnischer Arbeiter" . Es wird betont, daß die Bourgeoise "weißen Menschenhandel in Reinkultur" betreibt, aber die Lösung nicht in einem Verbot der Einwanderung liegen kann. Notwendig sei ein Kampf für politische und wirtschaftliche Gleichstellung aller Ausgebeuteten, unabhängig von ihrer Nationalität. "Grenzpfähle darf kein Internationalist kennen. So erscheint uns das Leben eines polnischen Arbeiters genauso wertvoll wie das des deutschen Arbeiters". (Hugo Wenzel, zitiert in Lehman/Elsner, S. 153)

Dieser Politik der Kommunisten stand die der Sozialdemokraten diamentral gegenüber, welche zu der polnischen Minderheit in Deutschland, und den polnischen Saisonarbeitern eine nationalistische, chauvinistische Position einnahmen. So wurde von der Reichstagsfraktion der SPD im März 1928 dem deutsch-polnischen Abkommen über die Saisonarbeiter zugestimmt, das jene der völligen Willkür der Gutsbesitzer auslieferte. Politisch aktive Polen wurden von der Sozialdemokratie verfolgt und nach Polen ausgewiesen. Die Kommunisten verurteilten diese Politik der Sozialdemokratie scharf.

Auf Initiative der KPD hin wurde 1925 ein Kultur- und Bildungsverein polnischer Arbeiter in Deutschland gegründet, der sich um die Hebung des Bewußtseinsstands und der Organisierung der polnischen Arbeiter bemühte. Er sollte helfen die Interessen dieser Arbeiter durchzusetzen. Vorsitzender war der polnische Kommunist Jozef Kowalski und Sekretär der deutsche Kommunist Franz Pilarski. Dieser Verein entsandte 1929 eine Delegation in die Sowjetunion. Die Delegation konnte zwei Monate konkret das Leben im ersten Sozialistischen Staat kennenzulernen. Nach ihrer Rückkehr führten die polnischen Arbeiter dann Veranstaltungen in Berlin und anderen Städten durch, in denen sie über die Lage der Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion berichteten.

Besonders nach der Errichtung der Pilsudski-Diktatur 1926 organisierten die KPD und die Rote Hilfe massive Protestaktionen gegen den weißen Terror in Polen und Kampagnen zur Unterstützung der Verfolgten, Inhaftierten und ihrer Familien. An diesen Aktionen und Kampagnen beteiligten sich nicht nur Kommunisten, sondern auch sozialdemokratische Arbeiter und progressive Intellektuelle. Während die KPD an die Klassensolidarität der in Deutschland lebenden polnischen Arbeiter appellierte, drohten ihnen zur gleichen Zeit im Staatsapparat tätige Sozialdemokraten bei Betätigung gegen das Pilsudski-Regime mit Ausweisung und Auslieferung an die Klassenjustiz in Polen.

Um die Tätigkeit der KPD unter der polnischen Minderheit und unter den Saisonarbeitern besser leiten zu können, wurde die Polnische Sprachgruppe der KPD gebildet. An ihrer Spitze stand Anton Jadasch. Seit September 1928 gab die Sprachgruppe die polnischsprachige Zeitung "Glos Pracy" (Stimme der Arbeit), die Anton Jadasch redigierte, heraus.

Die polnische Sprachgruppe führte all die Kampagnen durch, die die KPD organisierte, wobei sie von den spezifischen Interessen, Problemen und Aufgaben der polnischen Minderheit und der Saisonarbeiter ausging. Bei der Wahlkampagne zu den Reichstagswahlen und zum preußischen Landtag 1928 gaben sie z.B. 10.000 Flugblätter in polnischer Sprache heraus, in dem sie die polnische Minderheit in Deutschland auffordern ihre Stimme für die KPD zu geben. Diese verteilten sie auch in Versammlungen, die polnische Nationalisten veranstalteten. Zu anderen aktuellen politischen Fragen wie das deutsch-polnische Abkommen zur Landarbeiterfrage führten sie Veranstaltungen durch. Vorträge über kulturelle Fragen, und über Religion wurden gehalten. Für die Saisonarbeiter wurden spezielle Flugblätter herausgegeben, so ein Aufruf zur Teilnahme an den Maidemonstrationen.

Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre verstärkte die KPD den antifaschistischen, antimilitaristischen Kampf. An diesem Kampf nahm die polnische Minderheit in Deutschland aktiv teil. Im Grenzgebiet zu Polen organisierte die KPD gemeinsam mit der KAPP riesige Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Kriegsprovokation und chauvinistische Verhetzung durch den Hitlerfaschismus. Zehntausende polnische und deutsche Werktätige beteiligten sich.

Nach der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland mußte die KPD in die Illegalität gehen. Es ist darum ganz klar, daß es für diesen Zeitraum sehr viel weniger schriftliche Dokumente des Kampfes der KPD gibt. Nach dem Machtantritt des Hitlerfaschismus wurden polnische und Werktätige anderer Nationalität, die im Verdacht standen Mitglieder der KPD zu sein oder mit ihr zu sympathisieren, verstärkt verfolgt, verhaftet, ermordet oder ausgewiesen. Der Kultur- und Bildungsverein polnischer Arbeiter in Deutschland wurde 1933 verboten, viele seiner Mitglieder verhaftet, und nach Polen ausgewiesen. Die Kommunisten versuchten noch zugelassene legale Organisationen, wie z.B. die zwischen 1934 und 1939 von polnischen Konsulaten im Einverständnis mit dem faschistischen Hitlerregime gegründete "Polnische Vereinigung der Arbeit" für ihre kommunistische Propaganda auszunutzen. Die Rechte der polnischen Minderheit in Deutschland wurden von der KPD gegen den Hitlerfaschismus verteidigt und die verlogene faschistische Argumentation, sich als Verteidiger der deutschen Minderheit in Polen hinzustellen, entlarvt. Das im März 1938 von der KPD verfaßte Rundschreiben für "Die Unterstützung des Kampfes der polnischen Minderheit gegen Hitler für ihre Rechte und Forderungen durch die Kommunisten und die Aufgaben der deutschen Volksfront", das die Haltung der KPD in dieser Frage darlegt und zum gemeinsamen Kampf gegen den Hitlerfaschismus aufruft, zeugt von diesem Kampf.

Insgesamt läßt sich für diesen Zeitraum sagen, daß die KPD einen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus und Revanchismus zur Festigung der internationalen Klassensolidarität geführt hat. Insbesondere die verschiedenen Organisierungsformen, wie z.B. die polnische Sektion, die vielfältigen Agitations- und Propagandamittel unter den polnischen ArbeiterInnen, sind wichtiges Vorbild für unseren heutigen Kampf.

In der nächsten Nummer von "Trotz Alledem" werden wir, wie in der Vorbemerkung bereits angekündigt, mit die Artikelserie fortfahren.

Anmerkungen

1) Auch die Kolonialisierung (insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert) weiter Teile der Welt durch die herrschenden Staaten des europäischen Kontinentes, die auch eine Besiedelung aller Kontinente der Welt und gleichzeitig eine rassistische Unterdrückung und Vernichtung der indigenen Völker bedeutete, kann in einer Hinsicht als eine "Wanderbewegung" betrachtet werden. Auf sie gehen wir in diesem Zusammenhang aber nicht ein, weil das unser Thema sprengen würde.

2) Auf die Organisierungsdebatte, die im Rahmen der I. Internationale geführt wurde, wie die irischen ArbeiterInnen in England zu organisieren sind - in eigenen Sektionen -, gehen wir in diesem Artikel noch nicht ein. Wir greifen die Frage in einem unserer folgenden Artikel auf.

3) In seinem Werk "Über die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" geht er auf die Ursachen und Folgen der Binnenwanderung in Rußland ein. Hierauf gehen wir wie schon gesagt in diesem Artikel nicht ein.