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2008 – Rückschau auf 1968 Bürgertum und ihre Ideologen triumphieren: „Rebellion ist kriminell – Revolution ist ein Verbrechen“

Wir haben bereits zum 30. Jahrestag in unserer Zeitschrift Trotz Alledem, Nr.8/1998 die 68er Bewegung ausführlich eingeschätzt.

In diesem Artikel wollen wir darlegen, welchen Blick die Herrschenden diesmal auf die 68er werfen. Welches Haar sie zupfen und welches sie noch dran lassen.
 

Von Spießern und Biederfrauen

Für Schlagzeilen sorgte zuerst einmal Eva Herman, die mit ihrem Buch „Das Eva Prinzip“ für kurze Zeit im Gespräch war. Sie behauptete die 68er und der Feminismus seien Schuld an Kindermangel und zerrütteten Familien, weil sie die Familienwerte zerstört hätten. Es blieb nicht dabei. Nach dem Motto schlechte Werbung gib es nicht, startete sie ihren „Mutterkreuzzug“ gegen die 68er und pries die Familienwerte der Nazis an. „Was gut war, das sind die Werte Kinder, Mütter, Familie, Zusammenhalt“. War das wirklich nur eine saudumme Marketing-Kampagne, um das Buch zu verkaufen oder hat die Herman, ermutigt durch den Zeitgeist, einfach nur ihr Schweigen gebrochen und ihr wahres Gesicht gezeigt? Das letztere scheint der Fall zu sein und gilt für viele andere dieser Tage.

In dieselbe Kerbe schlagen auch der Chefredakteur von „Bild“ Kai Diekmann und ZDF Journalist Peter Hahne. Der erste bezichtigte die 68er der Rentenlüge, des Sozialhilfebetrugs, des Öko-Glaubens, natürlich Vaterlandshass, Faulheit und der zweite warf ihnen vor, für den Verlust an Tugenden und Werten verantwortlich zu sein. Gemeint waren deutsche Tugenden wie Kadavergehorsam, nach oben buckeln nach unten treten, die Dreiheiligkeit Staat, Familie, Kirche, Disziplin um jeden Preis etc. Das sind keine neuen Vorwürfe, die gleichen wurden schon 1968 aus der konservativen Ecke erhoben.

Der Spiegel wählte die Variante des Spottes wie er dies in seinem Cover der Nummer 44 getan hat: „Es war nicht alles schlecht! Gnade für die 68er“. Dann lässt er ein Dutzend Alt68er, heute keine Revoluzzer mehr, sondern Bürger mit ansehnlichen Berufen über ihre Jugendzeit resümieren.

Die Haltung zu 1968 sagt, wo die Leute heute stehen. Ganz besonders gilt das für diejenigen, die damals mitgekämpft haben und aktiv waren. Bevor wir uns mit ihnen beschäftigen, gehen wir aber erst einmal kurz zurück zu Eva Herman und dem Familienglück im Dritten Reich.

Die 68er haben das staatlich verordnete Schweigen zu den Naziverbrechen der Adenauerzeit durchbrochen. Sie haben die Rolle ihrer Väter im Dritten Reich hinterfragt. Nach ihrem positiven Bezug zu den Familienwerten der Nazis zu urteilen, hat Eva Herman, wie die Mehrheit der Deutschen, sicherlich nicht die Rolle ihres Vaters und ihrer Familie im Nazireich hinterfragt.

Wie Gremliza in Konkret 3/2008 richtig feststellt: „Neunzig Prozent des staatlichen und gesellschaftlichen Herrschaftspersonals der BRD waren mit dem der Jahre 1933 bis 1945 so lange identisch, bis die Biologie nicht mehr mitspielte.“ Alt-Nazis waren weiterhin in Amt und Würden. Hunderte Naziverbrecher wurden noch 1968 von den Gerichten freigesprochen. Spektakuläre Aktionen wie die Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger durch Beate Klarsfeld verdeutlichte, dass die braunen Väter weiterhin in allen Ämtern zu finden waren, jetzt mit demokratischem Anstrich.

Überall in der Gesellschaft begegnete man diesen Verbrechern, die nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt worden waren. Hermann Josef Abs lenkte weiterhin die Deutsche Bank und verantwortete unter Hitler als Aufsichtsrat von IG Farben die Vernichtung der Juden in Auschwitz. Hans Martin Schleyer, ehemaliger SS-Führer, bis zu seiner Tötung durch die RAF, Chef des Arbeitgeberverbandes, wird nach wie vor in allen Ehren gehalten.

Die Hochschulen und Universitäten waren voll von Nazi-Professoren, die die Diskriminierung und Vernichtung der Juden und andere Verbrechen arisch und völkisch begründet hatten, wie zum Beispiel Ulrich Scheuner, der einflussreichste Staatsrechtslehrer der 60er Jahre. Sie gingen soweit Studenten an den Pranger zu stellen, die sich kritisch mit dem Recht des Dritten Reiches auseinandersetzten. Noch heute wird über Alt-Nazis wie den Marinerichter Filbinger, der Deserteure und Gegner des NS-Regimes erschießen ließ, in allen Ehren gesprochen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger, der schon mal mit seinen schlagenden Burschenschaften im Ländle bedenkenlos die Dritte Strophe der Nationalhymne „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt….“ singt, hat für seinen Freund Filbinger April 2007 die Trauerrede gehalten und ihn kurzerhand in einen Gegner des NS-Regimes umgedeutet. Noch heute können wir Kontinuitäten zum Dritten Reich feststellen, wir müssen bloß ein wenig an der Oberfläche Deutschlands kratzen. Oettingers Beispiel ist zugleich ein Lehrstück wie man Geschichte umdeuten kann, wenn man nur die Macht in der Hand hat. Wer soll ihm widersprechen und mit welchen Konsequenzen?

Die Realität 1968 war: In der Schule exerzierten alte Nazis deutsche Tugenden wie Gehorsam, Disziplin, Demut und Untertanengeist. In den Fabriken dirigierten alte Nazidirektoren. Die personelle Kontinuität war allenthalben sichtbar.

Und das Familienglück der Nazis war geprägt vom Patriarchat für die einen und Vernichtung für die anderen. Während der deutschen Frau die Rolle der Gebärmaschine, dekoriert mit Mutterkreuz und Hausfrau verordnet wurde, wurden anderswo jüdische Familien auseinander gerissen, zur Flucht getrieben oder in die Gaskammern der Vernichtungslager geschickt.

In dieselbe Nazikiste wie Herman greift der “Wissenschaftler und Journalist“ Götz Aly, aber mit umgekehrten Bezug zu den Nazis. Aly war Anfang der 70er Führungsmitglied von PL/PI (Proletarische Linke/Parteiinitiative). In altbewährter Totalitarismus-Manier links gleich rechts, Kommunismus gleich Faschismus führt Aly seinen ganz persönlichen Kreuzzug gegen die 68er. Geradezu inquisitorisch greift er die 68er an. Aber hören wir es aus Götz Alys Mund: „Die Kinder der deutschen Massenmörder sind damals einem Massenmörder (gemeint ist Mao Tsetung) hinterher gerannt. Ich hab auch eine Mao Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus – und besonders des deutschen“. (taz 29.12.07) Götz Aly stellt in seinem Machwerk, dessen Titel „Unser Kampf“, sich bewusst an Hitlers „Mein Kampf“ anlehnt, die Studentenbewegung mit der Nazibewegung auf dieselbe Ebene. „Ähnlich wie später Dutschke forderte Goebbels sein akademisches Publikum zur Bildung revolutionärer Bewusstseinsgruppen auf“. Mit ihrem totalitären Anspruch seien sie mit den Nazis gleichzusetzen. Sie hätten dort weiter gemacht wo die Väter aufgehört hätten. Sie seien totalitär und gewalttätig gewesen. Sie hätten die Aufklärung über den Holocaust gebremst, die Zivilisierung der Gesellschaft, die Adenauer und Co vorhatten, verhindert.

Adenauer als Aufklärer über den Nazifaschismus? Der Adenauer, der demokratisch dort weiter gemacht hat wo das Nazipack durch die Niederlage gegen die Anti-Hitler-Koalition aufhören musste. Selbst Helmut Kohl wird bei Aly Sympathisant der Studentenbewegung. „Aber diese Generation Kohl wandte sich 1968 ab, weil sie merkte: da steckt etwas Wildes, Totalitäres drin“. (Interview, taz, 29.1. 2.07) Der Totalitarismus Vorwurf ist nicht neu und keine Erfindung von Aly. Vor ihm hat „Bild“ die Studenten damals als „Politgammler“ und „langhaarige Affen“ mit „SA-Methoden“ beschimpft.

Alle Studenten wurden und werden heute genauso mit dem Totalitarismus-Hammer erschlagen, die die Oktoberrevolution, die chinesische Revolution oder zukünftige Revolutionen richtig finden.

„…diese ganzen

Revolutionsvorstellungen waren naiv. Wären sie realistisch gewesen, wären sie gefährlich geworden…“

(Joschka Fischer)

Nachdem 2007 zum 30. Jahr des Deutschen Herbstes die RAF demontiert wurde, lag es nicht fern dieses Jahr das revolutionäre Potenzial der 1968er genauso zu demontieren. Vorneweg kamen zuerst die zu Wort, die in ihrer Laufbahn Rebellion und revolutionäre Gewalt richtig gefunden hatten.

Eine Reinwaschung stand allen ehemaligen Straßenkämpfern bevor, wollten sie weiterhin von den Herrschenden akzeptiert werden. Das waren solche Alt68er, die heute sich zu den namhaften Persönlichkeiten dieser Republik zählen dürfen. Ganz oben rangiert Joschka Fischer, der es vom Sponti-Revoluzzer zum deutschen Außenminister gebracht hat. Was er heute falsch findet an den 68ern? Naja, das mit der Revolution, das war naiv und die Gewalt, das war übertrieben, das war falsch, natürlich nicht von Seiten des Staates, sondern von Seiten der 68er. Im Tagesspiegel Interview vom 30.12.07 antwortet er auf die Frage: „Sie wollten damals nicht das Leben kennen lernen, Sie wollten die Revolution machen?“ „Ja, die Intention war naiv, teilweise sogar falsch, teilweise unverantwortlich. Das Verhältnis zur Gewalt war unverantwortlich, und diese ganzen Revolutionsvorstellungen waren naiv. Wären sie realistisch gewesen, wären sie gefährlich geworden, weil sie zu sehr viel Gewalt und Unrecht geführt hätten.“

Das ist der Gordische Knoten aller historischen Betrachtungen. War die Rebellion der 68er berechtigt oder war sie kriminell? War der Wille zum gewaltsamen Umwälzen der Gesellschaft berechtigt oder war dieses Ansinnen in der „besten aller Ordnungen“ ein Verbrechen? Die Vertreter des kapitalistischen Systems haben eine klare Antwort darauf: Rebellion ist kriminell und Revolution ist ein Verbrechen. Wer ist für die Übertragung dieser Botschaft nicht besser geeignet als weise Männer der 68er Bewegung.

Auch der dümmste Bourgeois wird die Rolle der 68er in der Liberalisierung vieler Bereiche des Lebens nicht verneinen können. Viele Reformen im Schul- und Universitätsbereich, im Familien- und Jugendrecht, in der Frauenemanzipation etc. wurden auf Grund des Druckes von unten veranlasst.

Aber nicht einmal die spießigsten Deutschen wie Eva Herman wollen zurück in die bleierne Zeit von 68. Denn dann hätte sicherlich kein Spießer, keine Biederfrau und keine Kirche ihre Lebensform – inzwischen die vierte oder fünfte Ehe, Kind und berufstätig – gutgeheißen.

Es sind nicht die Wohngemeinschaften von damals, die unter dem Namen Kommune firmierten, oder die Kinderläden, die die Erziehung umwälzten oder der freiere Umgang mit Sex, Drugs und Rock’n& Roll (wofür übrigens jeder Bourgeois heute dankbar ist, weil er selber dies alles freier konsumieren kann), die zu den entscheidenden Widersprüchen führen.

Die Kernfrage heißt und wird bei den nächsten runden Geburtstagen der 68er sein: Bist du für die Revolution in Deutschland oder dagegen? Wie stehst du zum Gewaltmonopol des Staates? Die 68er verfolgten ob diffus oder klar den Entwurf einer neuen Gesellschaft, einer sozialistischen Gesellschaft, die dem verknöcherten Realsozialismus der DDR diametral entgegenstand. Sie wollten das kapitalistische Ausbeutersystem gewaltsam abschaffen. Und von dieser Kernfrage müssen sich alle Ex-Revoluzzer distanzieren, wollen sie zum bundesdeutschen Establishment gehören und im System Karriere machen. Und genau dies tun die Fischers, Cohn-Bendits, Alys, Kraushaars etc. Umso heftiger, je radikaler sie damals aufgetreten sind. Das ist das unbeschriebene Gesetz des Verrats. Brutus musste seinen Ziehvater Caesar ermorden, um in der nach Caesar-Zeit zur Oligarchie dazu zu gehören. Diese Wendehälse töten heute ihre Ideale und Visionen von damals.

Aly ist ein Beispiel für den fortgeschrittenen Zeitgeist unter den so genannten Denkern und Wissenschaftlern, die jede Alternative zum deutschen Imperialismus auf das Schärfste verurteilen. Die Aggressivität dieser Leute geht konform mit der Aggressivität des deutschen Imperialismus, seiner militaristischen Außenpolitik, seinen Angriffen nach innen gegen die eigene Bevölkerung. Der wiederentdeckte deutschchauvinistische Nationalismus von namhaften Schriftsteller von Grass bis Walser ist ein Ausdruck des erstarkenden „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Jede Alternative, jedes Aufbegehren gegen deutsche Zustände wird von den Lohnschreibern intellektuell bekämpft und vom Repressionsapparat praktisch umgesetzt. „Die Studenten fielen in den Totalitarismus zurück, in die Spurrillen unserer Dreiunddreißiger-Eltern.“ (Götz Aly, taz, 29.12.07) Und: „Die Väter der 68er. Vor 75 Jahren kam Hitlers Generationenprojekt an die Macht: die 33er.“ (Aly, FR, 30.01.08) Herr Aly ist so deutsch-national, dass ihm nicht einmal die Frage in den Sinn kommt, wie das mit der 68er Bewegung wohl weltweit war? Denn die Studentenbewegung war kein Ur-deutsches Produkt. In Mexiko und auf den Philippinen, in England und Indien war die Vätergeneration ja wohl kaum den Nazis zuzuordnen?! Und trotzdem kämpften sie mit gleichen Parolen, gleichen Forderungen, gleichen Protestformen wie die deutschen Studenten?

Die Gleichsetzung der Studentenbewegung mit der Nazibewegung, beide seien ja totalitär, intolerant und gewalttätig gewesen, verharmlost grauenhaft den Hitlerfaschismus und die Shoa. Die zahlenmäßig vergleichsweise unbedeutende Studentenbewegung der Nazis war nur von einem geprägt: barbarischem Antisemitismus. Sie mordeten und wüteten schon vor dem Machtantritt des Hitlerfaschismus gegen jüdische Menschen, KommunistInnen und Antifaschisten. Bei Aly werden sie bedauert: „Die Mehrheit der 33er Studenten litt an tiefer Unsicherheit“. (Aly, „Unser Kampf“).

Aly wird geradezu antisemitisch, wenn die Bücherverbrennung der Nazis 1933 mit der gewaltsamen Verhinderung der Auslieferung der BILD-Zeitung nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Ostern 1968 auf eine Stufe gestellt wird. Die Bücherverbrennung der Nazis war der Prolog zur Reichspogromnacht 1938, zu den KZ’s und schließlich zu den Todeslagern. Die spontanen Angriffe gegen die Springerpresse waren gerechtfertigte Aktionen gegen einen zu Mord und Totschlag aufwiegelnden Medienkonzern. Mit diesen abstrusen Theorien soll den 68ern jede Daseinsberechtigung abgesprochen werden.

Die Rebellion sei doch gar nicht nötig gewesen. Unser demokratischer Rechtsstaat sei doch in der Lage sich zu reformieren und die Interessen aller Schichten auszugleichen. Der Aufruhr der 68er gegen deutschen Mief, Nazikontinuität, Remilitarisierung, Repression nach innen wird verurteilt.

Die Anziehungskraft der 68er für neue gesellschaftliche Entwürfe, für grundlegende Veränderungen, für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung soll aus dem Gedächtnis zukünftiger Generationen ausgemerzt werden. Die Rebellion darf nicht Schule machen. Das ist die Botschaft der Herrschenden zu dem diesjährigen Jahrestag.

Nur eins verschweigen die Renegaten des deutschen Imperialismus. Damals zitterten die Herrschenden und Reaktionäre auf der Welt von Bonn bis Jakarta, von Südafrika bis Mexiko vor dem Aufruhr, der Rebellion der Studenten und ArbeiterInnen. De Gaulle floh nach Baden-Baden, in der BRD wurden Notstandsgesetze gegen Aufruhr und Rebellion verabschiedet, Berufsverbote mit dem „Radikalenerlass“ verhängt, wodurch Tausende ihren Job verloren. Die Hetze der Bild-Zeitung fand ihr Echo auf der Straße: „Geht doch rüber“ war noch eine der harmlosen Beschimpfungen. „Ab ins Arbeitslager“ oder „Ab ins KZ“ spiegelten die Geisteshaltung der Spießer und Reaktionäre wider. Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke waren die Opfer dieser Hetze von Politik, Medien und Staat.

Heute wähnen sich alle Reaktionäre und Vertreter dieses Systems sicher in ihren Sesseln. Deswegen können sie zusammen mit den übergelaufenen Alt68ern Kübel voller Mist auf die Ziele und Beweggründe der Studentenbewegung kippen oder sie einfach verspotten.

Gegen den heutigen Geschichtsrevisionismus!

Wir lassen uns unsere Geschichte von den Herrschenden nicht klauen!

Lassen wir nicht zu, dass die Geschichte der Bewegung von 1968 völlig umgeschrieben wird!