TROTZ ALLEDEM!
Gewagte
These: Sozialismus
gab es nie ?!
Notizen zur
Broschüre „Gab es Sozialismus?“
von Mark
Staskiewicz (Gruppe wissenschaftlicher Sozialismus)
Die Gruppe wissenschaftlicher Sozialismus (GwS) hat die Broschüre „Gab es Sozialismus?“ (zwei Hefte, März 2008) herausgebracht. Diese Frage war ein zentrales Thema bei der Spaltung dieser Gruppe (Februar 2008) vom Roten Oktober (Organisation zum Aufbau der Kommunistischen Partei in Deutschland). Aus zwei Gründen finden wir es wichtig zu der Broschüre unsere Meinung zu sagen. Erstens arbeiten wir nach wie vor mit beiden Gruppen in dieser oder jener Form in Bündnissen zusammen. Insofern ist eine Debatte und Klarstellung der Positionen unter uns über so eine wichtige Frage notwendig. Zweitens sehen wir generell nicht gerne zu, wenn sich Leute auf den Sozialismus berufen und dabei soviel Unsinn verbreiten.
Die
Auswertung der Broschüre „Gab es Sozialismus?“ bis Seite 28 ergab folgendes:
Zu Kapitel
1:
Im ersten
Teil versucht GwS ihre These zu beweisen: „Wer der Auffassung ist, dass
zwischen Kapitalismus und Sozialismus keine Übergangsperiode liegen muss, der
widerspricht den Ansichten der Klassiker des ML und entfernt sich selbst von
ihnen, revidiert sie (ob wissentlich oder unwissentlich). Die Behauptung, dass
es zwischen Kapitalismus und Sozialismus keine Übergangsperiode geben würde,
ist übrigens nicht neu. Schon Lenin kämpfte gegen sie: ‘Ferner sagt Gen. Rykow,
dass es eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht gebe.
Das stimmt nicht. Das heißt mit dem Marxismus brechen.’“ (Broschüre 1, S. 28)
1. Mit
solchen und vielen anderen langen Zitaten von Marx, Engels, Lenin und Stalin
versucht GwS ihre These zu beweisen. Diese Zitatenklauberei führt dazu, dass
man aus den angeführten Stellen alleine die These von GwS für richtig halten
kann. Es stimmt und sie belegen es mit vielen Beispielen wie die Klassiker an
verschiedenen Stellen von Übergangsperiode, Phase, Periode zum Sozialismus
sprechen. GwS reißt die Zitate aber aus dem Zusammenhang und so geht das
Wichtigste verloren: Wann und unter welchen Bedingungen von welchem Übergang
gesprochen wird. Man kann ihnen aber mit Zitaten der Klassiker auch genau das
Gegenteil für ihre These beweisen. In manchen Zitaten, die sie aufführen,
widersprechen sie ihrer These selbst. Das fällt ihnen anscheinend nicht auf.
2. GwS
diskutieren im ersten Teil gar nicht den konkreten Aufbau des Sozialismus und
die Schwierigkeiten dabei. Gerade der Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland
ist ein Paradebeispiel voller Perioden und Übergangsphasen vom Kapitalismus zum
Sozialismus mit all ihren Höhen und Tiefen. Anstatt hier konsequent am Thema zu
bleiben und weiterhin sich an den Klassikern zu orientieren, werden Lehrbücher
und Lexika der DDR benutzt. Der Aufbau des Sozialismus vollzog sich eben nicht
wie im Lehrbuch der DDR. Abgesehen davon, dass sie kritiklos revisionistische
DDR-Literatur zitieren, werden allgemein theoretisch die
Gesellschaftsformationen dargelegt und lehrbuchmäßig die Übereinstimmung von
Produktionsverhältnissen und Produktivkräften als der Beweis für den
Sozialismus und seine Unumkehrbarkeit behauptet. Schematisch stellt GwS dann
fest, wenn Sozialismus da war und wenn das Verhältnis zwischen Produktivkräften
und Produktionsverhältnissen übereinstimmte, dann darf und kann es kein Zurück
mehr geben. Nur in der ersten Übergangsperiode kann es schon ein Zurück geben,
weil diese Übergangsperiode ja noch kein Sozialismus ist. Daher gab es nach
Meinung von GwS bislang in der Geschichte nur die allererste Übergangsperiode
und in keinem Land den Sozialismus. Leider treffen für ihre Methode Beispiele
von Leuten zu, die gehen mathematisch/ schematisch ran, die sagen da kommt erst
das eine, dann das andere. Sie verlieren sich im Detail, verfitzeln sich und sehen
den Gesamtzusammenhang nicht mehr und von einem Tag zum anderen wissen sie
nicht mehr, was sie glauben sollen.
3. Da GwS
den Sieg des Revisionismus und die Rückentwicklung zum Kapitalismus nicht
erfassen können, benutzen sie die Kybernetik als Erklärungsmethode. Das ist
eine Wissenschaft, die Mathematik und Mechanik zusammenführt und für die
Computertechnologie von Bedeutung ist. Sie übertragen nun diese Methode auf die
Gesellschaftsanalyse. Das Ergebnis ist ein schematischer und undialektischer
Erklärungsversuch der Gesellschaftsentwicklung.
Zu Kapitel
2 und 3
Im 2. und
3. Kapitel versucht GwS folgende These zu beweisen:
„Fazit: Das
Fazit aus den Punkten 3.1 – 3.12 lautet: Es gab keine kapitalistische
Restauration einer sozialistischen Sowjetunion. Die Sowjetunion kann nicht
sozialistisch gewesen sein. Es gab keinen Sozialismus.“ (S. 59)
1. Im 2.
Kapitel ab Seite 29 gibt GwS die Haltung der sozialistischen Sowjetunion und
hier insbesondere von Stalin über die Verwirklichung der Periode des
Sozialismus wieder. Aus den Texten ist zu ersehen, dass die KPdSU(B) und Stalin
ab Mitte 1930 von der Verwirklichung des Sozialismus und der Liquidierung der
Ausbeuterklassen ausgehen.
Auch hier
versucht GwS durch Zitatenklauberei scheinbare Widersprüche in den Aussagen
einiger Theoretiker des Marxismus-Leninismus zu finden. Diese sind teilweise
auf Verdrehungen und Verkürzungen in ihrer falschen Methode begründet. Da diese
nicht wesentlich sind, möchten wir ihre falsche Methode nur anhand eines
Beispiels darstellen.
S. 34:
„Feststellung: Ein Nachweis darüber, dass die Sowjetunion in den ersten Jahren
nicht sozialistisch war, muss nicht erfolgen, da sie selbst nicht vom
Sozialismus ausging.“ Den Beweis glauben sie schon im ersten Teil erbracht zu
haben. Ihr Beweis ist, dass die Klassiker von Übergangsperiode reden. Dazu
haben wir schon im oberen Teil etwas gesagt.
Nachdem GwS
also sagt, dass die Übergangsperiode von 1917 bis 1930 nicht sozialistisch war
untersuchen sie im 3. Kapitel die Frage: „War die SU von 1930 bis 1953
sozialistisch und hat dann eine kapitalistische Restauration stattgefunden?“
Als Hauptwerk benutzen sie das Buch von Lion Wagner: „Sozialismus gab es nie“,
das sie uns als Lektüre wärmstens empfehlen.
2. Anstatt
die konkrete Wirklichkeit und die Diskussionen in der Sowjetunion (SU) über den
Ablauf des Aufbaus des Sozialismus zu diskutieren, bleiben sie auf einer
abstrakt-theoretischen Ebene hängen. Die Erfolge, aber auch die Misserfolge und
die konkrete Entwicklung des Aufbaus des Sozialismus wurden durch die
Sowjetunion in den Fünf-Jahrplänen, durch die KPdSU(B) auf ihren Parteitagen
mit Fakten und Zahlen belegt. Jede Übergangsphase ist ausführlich diskutiert,
praktiziert und ausgewertet worden. Dazu findet man bei GwS kein einziges
Beispiel oder konkrete Fakten und Statistiken. Stattdessen führen sie eine
formal-theoretische Diskussion und gehen auf den Stand von Marx und Engels
zurück. Diese Klassiker haben den Sozialismus konkret nicht erlebt und haben
deshalb nur die Grundzüge charakterisiert und Andeutungen über konkrete
Ausformungen des Sozialismus gemacht, wie es ihnen in ihrer Zeit möglich war.
3. Die
Abfolge der Gesellschaftsformationen ist ein beliebtes Argument von GwS. Sie
behaupten:
„Der
Marxismus geht davon aus, dass es kein Zurück auf die alte Stufe gibt. Also
dass z.B. aus dem Kapitalismus kein Feudalismus mehr werden kann, (…)“.
(Broschüre 1, S. 37) Etwas weiter sagen sie: „Schließen wir bestimmte Ausnahmen
aus, die wir weiter unten noch ansprechen werden, so würde eine solche Aussage
(es gab Sozialismus) der marxistischen Gesellschaftstheorie widersprechen, wäre
das Axiom von der Abfolge kein Axiom, sondern eine anhand der Praxis widerlegte
These. Also nach dem Marxismus kann es auch kein einfaches Zurück vom
Sozialismus zu einer niedrigeren ökonomischen Gesellschaftsformation geben.“
Nach GwS kann es nur höher gehen, ein Zurück ist unmöglich. Höhere Abfolge
bedeutet, hier zitiert GwS Lion Wagner: „Höher bedeutet gesellschaftlichen
Fortschritt realisieren können (…). Gesellschaftlicher Fortschritt ist die
ständige Lösung des Hauptwiderspruchs zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen auf immer höherem Produktivkräfteniveau (verkürzte
Definition).“ (S. 37) Wagner und GwS leiten daraus ab, eine Nichteinhaltung des
Gesetzes führt zum Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen. Wagner:
„Der Sozialismus löste den Kapitalismus und der wiederum löste den Sozialismus
ab? Das wäre der Bankrott der materialistischen Geschichtsauffassung (…).“ (S.
37) GwS dazu: „(….) so kann es sich nicht um Sozialismus gehandelt haben, da
das sozialistische System die ständige Lösung dieses Hauptwiderspruchs verlangt
und als Bedingung hat.“ (S. 41-42) „Wenn dieser Widerspruch (zwischen
Produktionsverhältnissen und Produktivkräften) durch eine ständige Lösung
angegangen worden wäre, so wäre eine Restauration des Kapitalismus nicht
möglich gewesen.“ (S. 43) Er zitiert Marx: „Eine Gesellschaft geht nie unter,
bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und
neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle bevor die
materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft
selbst ausgebrütet worden sind.“ (S. 39) Und schlussfolgert: „Wenn es eine
sozialistische Gesellschaft gewesen wäre, so hätte ihr Untergang erst geschehen
können, wenn alle Produktivkräfte entwickelt worden wären, wie es der
Sozialismus zulässt. Es hätten dann auch höhere Produktionsverhältnisse an ihre
Stelle treten müssen. Es traten aber kapitalistische Produktionsverhältnisse an
ihre Stelle. (…) Hier entsteht also ein Widerspruch von der ‘es gab
Sozialismus-These’ und diesem marxistischen Grundsatz, der sich nicht lösen
lässt. (…) Im Grunde handelt es sich somit um eine Revision der marxistischen
Gesellschaftstheorie.“ (S. 39-40)
Wagner
erweitert diese These: „Aus dem Gesetz folgt, dass eine subjektiv bzw. objektiv
begründete Nichteinhaltung dieses Gesetzes hinreichende Bedingung für den
Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen ist.“ (S.41) GwS behauptet die
Produktivkräfte waren auf dem Niveau des Kapitalismus S. 44. Wieder S. 44 „Da
die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft aber an das Auftreten und die
Lösung von Widersprüchen geknüpft ist muss die Existenz des Sozialismus
bestritten werden.“
Die These
von GwS zusammengefasst: Sie behaupten, die Lösung des Widerspruchs zwischen
Produktionsverhältnissen und Produktivkräften ist der Motor der Entwicklung
einer Gesellschaft. Die Gesellschaftsformationen lösen sich in aufsteigender
Linie ab, es gibt kein zurück. Also vom Kapitalismus zum Sozialismus und dann
gibt es keine Möglichkeit für die Restauration des Kapitalismus. In der
Sowjetunion wurde der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und
Produktivkräften nicht gelöst, die Produktivkräfte waren auf einem kapitalistischen
Niveau, es gab somit überhaupt keine Entwicklung zum Sozialismus, das war kein
Sozialismus. Insofern gab es auch keine Restauration des Kapitalismus.
Diese These
und die scheinbaren Belege zeigen folgendes:
* Anstatt
den Aufbau des Sozialismus ganz konkret zu untersuchen, bleibt GwS an
Lehrbuchformeln haften. Sie selber verfälschen den Marxismus für ihre
Beweisführung.
Die
Klassiker haben die Gesellschaftsformationsthese nie so mechanisch ausgelegt
wie GwS das tut. Sie verfälschen die Klassiker Marx und Engels. Die Geschichte
zeigt, dass es eine lange Phase braucht bis sich eine Gesellschaftsformation
durchsetzt. Der Kapitalismus hat mehrere Jahrhunderte gebraucht, um sich als
Weltsystem zu etablieren. Er hat viele Rückschläge überwinden müssen. Wo steht
geschrieben, dass der Sozialismus beim ersten Anlauf das schafft?
* Sie
bleiben der falschen Methode der Zitatenklauberei verhaftet, obwohl sie
vorgeben, das überwunden zu haben.: „Und ich machte es im Prinzip wie Bland,
dass ich mir Elemente ansah und nach für mich passenden Zitaten suchte.“
(Broschüre 2, S. 106)
* Sie
reduzieren die gesellschaftliche Entwicklung und die Abfolge der
Gesellschaftsformationen auf ein rein ökonomisches Problem. Sie behaupten, dass
sich die Gesellschaft nur durch die Lösung des Widerspruchs von
Produktionsverhältnissen und Produktivkräften entwickelt. Eine einfache Frage
zurück an GwS: Seitdem es den Kapitalismus gibt, existiert der Widerspruch
zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Im Imperialismus ist
dieser Widerspruch bis ins Extreme angewachsen, er schreit geradezu nach einer
Lösung. Nach der Behauptung von Wagner und GwS müsste der Kapitalismus schon
längst abgelöst sein. „Aus dem Gesetz folgt, dass eine subjektiv bzw. objektiv
begründete Nichteinhaltung dieses Gesetzes hinreichende Bedingung für den
Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen ist.“ (Broschüre 1, S.41) Aber
der Imperialismus/Kapitalismus lebt munter weiter!! Woran liegt das wohl??
Warum löst
sich dieser Widerspruch nicht elementar? Darauf werden beide Autoren wohl noch
ihr Leben lang warten. Das ist die Kapitulation von GwS vor dieser Aufgabe. Sie
warten ab, bis sich der Widerspruch „elementar“, also von selbst, löst. Sie
sehen nicht, dass ohne das bewusste Subjekt, ohne eine Kommunistische Partei,
die die Vorhut des Proletariats bildet und die von der Mehrheit der
Arbeiterklasse und der Werktätigen mitgetragen und unterstützt wird, ohne die
bewusste Tat der Arbeiterklasse und Werktätigen mit Führung der Kommunistischen
Partei, sich an die Spitze des historischen Prozesses zu setzen und die
Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse erkämpft, entweder das System weiter
besteht und letztlich die Menschheit in den Untergang führt. Die Rolle des
Klassenkampfes wird absolut vernachlässigt. Und was ist mit der marxistischen
Grunderkenntnis: Die Revolutionen sind der Motor der Geschichte? Haben sich GwS
und Wagner bereits von der Revolution verabschiedet?
* Zur
Rolle des Klassenkampfes/der Politik
Die
wichtige Rolle des bewussten Subjekts wird hier völlig außer Acht gelassen.
Fragen wie: Stärke der Arbeiterbewegung und Stand der Klassenkämpfe, der
Widerspruch zwischen Imperialismus und unterdrückten Völkern, sowie weitere
Widersprüche, wie die unter den Imperialisten selbst, finden in dieser
Betrachtung überhaupt keinen Platz. Ein durch und durch ökonomistischer Ansatz,
der auf den Selbstlauf der Geschichte hofft. Die Wechselwirkung zwischen
Ökonomie und Politik wird nicht analysiert. Aber Geschichte wird gemacht.
* Es wird
methodisch mit vielen WENNS UND DANNS gearbeitet.
Die Analyse
des Sozialismus wird zu einer reduzierten und vereinfachten Betrachtung am
Beispiel eines Hauses. In der zweiten Broschüre wird auf Seite 110, Anhang 1,
Systemdenken, das System Haus mit dem System Sozialismus verglichen. „So wie
ein Haus aus bestimmten Bauteilen bestehen muss, muss auch der Sozialismus aus
bestimmten Elementen bestehen.“ (Broschüre 2, S. 111) In Broschüre 1, S. 56
werden 10 Thesen aufgestellt, die als Elemente den Sozialismus charakterisieren
sollen. Der „gesunde Menschenverstand“ soll nun anhand dieser 10 Thesen
beurteilen, ob es Sozialismus war oder nicht. Der völlig abwegige Weg von
Wagner und GwS liegt darin, dass sie vor der Aufgabe kapitulieren, ihre 10
Thesen anhand der Wirklichkeit der Sowjetunion kritisch zu prüfen. Anstatt eine
marxistisch-leninistische wissenschaftliche Analyse durchzuführen, wird
stattdessen der „gesunde Menschenverstand“ in einer flachen Variante bemüht.
Dieses Kapitel heißt ja auch: „Widerspricht der gesunde Menschenverstand der
Sozialismusuntergangsthese?“ (Broschüre 1, S. 55) Mit vielen WENNs und DANNs
geht es weiter. „Wenn diese Thesen in der gesellschaftlichen Praxis realisiert
waren, dann waren doch diese Gesellschaftssysteme die Systeme zumindest der beiden
Hauptklassen der Gesellschaft, der Klassen der Arbeiter und
Genossenschaftsbauern.“ (Broschüre 1, S. 57)
Warum
überprüft ihr nicht eure Behauptung anhand der Realität der Sowjetunion? Der
Sozialismus ist doch keine Wahrscheinlichkeitsrechnung! Die WENN-DANN-Methode
lernt man in Deutschland gewöhnlich in der Grundschule, um den Kindern erste
mathematische Logiksätze beizubringen. Wenn man nun diese Methode mit dem
„gesunden Menschenverstand“ auf die Sozialismusanalyse anwendet, dann kann
daraus nur das Verständnis eines Fünftklässlers über die Betrachtung dieser
Fragen herauskommen. Auf diesem Niveau bewegt sich die Analyse von Wagner und
ihrer Anhänger von GwS. „Aus dem ‘gesunden Menschenverstand’ folgt nun, dass
sich die beiden Hauptklassen ihre Gesellschaftssysteme nicht so einfach
wegnehmen lassen. Fakt aber ist, die Arbeiter und Genossenschaftsbauern als
Klassen, verteidigten diese Ordnungen nicht! Für die Nichtverteidigung der
untergegangenen Systeme gibt es scheinbar folgende Gründe:
1. Die
Klassen des Proletariats und der Genossenschaftsbauern bemerkten nicht, dass
der Sozialismus ‘allmählich beseitig’ und der Kapitalismus ‘allmählich
restauriert’ wurde.
2. Die
Arbeiter und Genossenschaftsbauern hatten unüberwindliche Ängste vor der in den
Händen einer konterrevolutionären Minderheit liegenden Verfügungsgewalt über
die politische einschließlich bewaffnete politische Gewalt.
3. Die
Gesellschaftsordnungen entsprachen nicht im allgemeinen und wesentlichen,
sondern nur im einzelnen den Interessen der beiden Hauptklassen.“ (Broschüre 1,
S. 57)
Nach WENN
und DANNS nun das SCHEINBARE. Die „Scheinbar-Methode“ findet sich noch an
anderen Stellen bei Wagner. Anstelle einer fundierten Analyse, darf sich nun
der Leser eine der drei Antworten mit seinem „gesunden Menschenverstand“ gleich
einer Tombola aussuchen. Da nach Wagner die ersten beiden Gründe nur scheinbare
Gründe sind, bleibt nur der dritte Grund, der vom „gesunden Menschenverstand“
als der richtige Grund betrachtet werden kann.
Um uns die
Entscheidung zu erleichtern, wird uns zur Hilfe die Grundschulmathematik
angeboten. „Daher fragt der ‘gesunde Menschenverstand’: Warum verteidigte
erstmals in der Geschichte die herrschende Klasse, und diese ist ja im
Sozialismus die Arbeiterklasse, die ihren Interessen entsprechende Ordnung
nicht? Und der ‘gesunde Menschenverstand’ kommt zu folgendem Schluss: Die
Arbeiterklasse und die Klasse der Genossenschaftsbauern würden den Sozialismus
verteidigen. Da die beiden Hauptklassen der Gesellschaft die untergegangenen Ordnungen
aber nicht verteidigten, waren sie kein Sozialismus.“ (Broschüre 1, S. 58) Das
ist für jemanden, der vorgibt Marxist zu sein, nicht würdig. Das ist unter dem
Niveau, was bürgerliche Wissenschaftler über die Sowjetunion schreiben. Das
könnte eine einfache Erklärung eines bürgerlichen Lehrers über den Untergang
des Sozialismus für seine Fünftklässler sein, aber mehr nicht. Um diese
lächerliche Methode zu verstehen, zitiere ich an der angegeben Stelle weiter.
„Auswertung: Aus der ‘Analyse’ gemäß dem ‘gesunden Menschenverstand’ folgt ein
Zweifel daran, dass die untergegangenen Ordnungen Sozialismus waren. Der
Zweifel wird gemäß der formalen Logik über den Bedingungssatz (hypothetisches
Urteil) nach folgendem allgemeingültigen Schlussschema gestützt:
Wenn a so b
: Wenn ein Gesellschaftssystem Sozialismus ist, so wird es vom Proletariat
verteidigt. Nicht b : Das Gesellschaftssystem wurde aber vom Proletariat nicht
verteidigt.
Also: nicht
a: Also: Das Gesellschaftssystem war kein Sozialismus.“ (Broschüre 1, S. 58-59)
Das
erinnert an einen Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Eine alte
Bauernweisheit besagt: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann regnet es oder
nicht!“ Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnet ist genauso groß wie die
Richtigkeit der Behauptung von GwS.
Die Krönung
der wissenschaftlichen Beweisführung, dass es keinen Sozialismus gab, kommt
noch. Weiter im obigen Zitat: „Das Schlussschema garantiert einen wahren
Schluss bei einem wahren Bedingungssatz, und der Bedingungssatz ist wahr.“ So
einfach ist die Sozialismusanalyse. Diese Art der Argumentationslogik kennen
wir von der Jungen Union, wenn wir in der Schule uns über den Sozialismus
stritten. „Als Grund für die Nichtverteidigung der untergegangenen Systeme
durch die Hauptklassen der Gesellschaft verbleibt nur noch der dritte Grund.
(Das Gesellschaftssystem war kein Sozialismus, Anm. d. V.) Dieser wird durch
Befragung, persönliche Erfahrung und Kommunikation empirisch gestützt. (…) Will
man über den aus dem ‘gesunden Menschenverstand’ entstandenen Zweifel Klarheit
haben, bleibt nur noch eine wissenschaftliche Prüfung.“ Wenn wir die Wahl haben
zwischen dem „gesunden Menschenverstand“ dieser Autoren und einer
wissenschaftlichen Prüfung, dann bevorzugen wir lieber das Letztere. So eine
bedeutende Frage „Was ist Sozialismus? Und gab es ihn in der SU?“ sollte man
der marxistisch-leninistischen Wissenschaft überlassen. Und hier gibt es in der
Tat noch eine große Notwendigkeit marxistisch-leninistischer Analyse, die die
kommunistische Weltbewegung bis heute nicht ausreichend erfüllt hat. Die
Aufgabe steht an, zu ergründen und zu begründen, was und wie war der
Sozialismus in der Sowjetunion und nicht nur da, auch steht die Frage wie haben
sich die Volksdemokratien in den osteuropäischen Staaten und in der VRChina
herausgebildet, wurden sie sozialistische Staaten, war die DDR ein
sozialistischer Staat etc. Es gibt Ansätze der Analyse, es gibt Grundsätzliches
in Teilbereichen, aber daran muss unbedingt weiter gearbeitet werden. Vor allem
aber steht die große Frage, warum war die Restauration des Kapitalismus in all
diesen Ländern möglich. Auch hier gibt es zwar bereits wesentliche
Erkenntnisse, aber sie sind auf keinen Fall ausreichend. Eine vertiefte Analyse
des Scheiterns des Sozialismus in diesen Staaten muss vor allem in Bezug auf
die Frage, was müssen wir MarxistInnen-LeninistInnen heute programmatisch
anders planen, eine konkrete und umfassende Antwort geben.
Die
Methode, die Ausgangspunkte und Schlussfolgerungen von GwS bieten hier keine
positiven Anknüpfungspunkte zu der Aufgabe einen Teil beizutragen.
Die Autoren
geben ja selber zu, dass ihre Methode des „gesunden Menschenverstands“ doch
Zweifel an ihrer These offen lässt.
Und ihre
wissenschaftliche Methode, um sie auf einen Punkt zu bringen, erweist sich als
abstrakt, mechanisch, idealistisch und letztendlich als
antimarxistisch-leninistisch.
November
2008