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Gewagte These: Sozialismus gab es nie ?! 

Notizen zur Broschüre „Gab es Sozialismus?“

von Mark Staskiewicz (Gruppe wissenschaftlicher Sozialismus)

Die Gruppe wissenschaftlicher Sozialismus (GwS) hat die Broschüre „Gab es Sozialismus?“ (zwei Hefte, März 2008) herausgebracht. Diese Frage war ein zentrales Thema bei der Spaltung dieser Gruppe (Februar 2008) vom Roten Oktober (Organisation zum Aufbau der Kommunistischen Partei in Deutschland). Aus zwei Gründen finden wir es wichtig zu der Broschüre unsere Meinung zu sagen. Erstens arbeiten wir nach wie vor mit beiden Gruppen in dieser oder jener Form in Bündnissen zusammen. Insofern ist eine Debatte und Klarstellung der Positionen unter uns über so eine wichtige Frage notwendig. Zweitens sehen wir generell nicht gerne zu, wenn sich Leute auf den Sozialismus berufen und dabei soviel Unsinn verbreiten.

Die Auswertung der Broschüre „Gab es Sozialismus?“ bis Seite 28 ergab folgendes:

Zu Kapitel 1:

Im ersten Teil versucht GwS ihre These zu beweisen: „Wer der Auffassung ist, dass zwischen Kapitalismus und Sozialismus keine Übergangsperiode liegen muss, der widerspricht den Ansichten der Klassiker des ML und entfernt sich selbst von ihnen, revidiert sie (ob wissentlich oder unwissentlich). Die Behauptung, dass es zwischen Kapitalismus und Sozialismus keine Übergangsperiode geben würde, ist übrigens nicht neu. Schon Lenin kämpfte gegen sie: ‘Ferner sagt Gen. Rykow, dass es eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht gebe. Das stimmt nicht. Das heißt mit dem Marxismus brechen.’“ (Broschüre 1, S. 28)

1. Mit solchen und vielen anderen langen Zitaten von Marx, Engels, Lenin und Stalin versucht GwS ihre These zu beweisen. Diese Zitatenklauberei führt dazu, dass man aus den angeführten Stellen alleine die These von GwS für richtig halten kann. Es stimmt und sie belegen es mit vielen Beispielen wie die Klassiker an verschiedenen Stellen von Übergangsperiode, Phase, Periode zum Sozialismus sprechen. GwS reißt die Zitate aber aus dem Zusammenhang und so geht das Wichtigste verloren: Wann und unter welchen Bedingungen von welchem Übergang gesprochen wird. Man kann ihnen aber mit Zitaten der Klassiker auch genau das Gegenteil für ihre These beweisen. In manchen Zitaten, die sie aufführen, widersprechen sie ihrer These selbst. Das fällt ihnen anscheinend nicht auf.

2. GwS diskutieren im ersten Teil gar nicht den konkreten Aufbau des Sozialismus und die Schwierigkeiten dabei. Gerade der Aufbau des Sozialismus in Sowjetrußland ist ein Paradebeispiel voller Perioden und Übergangsphasen vom Kapitalismus zum Sozialismus mit all ihren Höhen und Tiefen. Anstatt hier konsequent am Thema zu bleiben und weiterhin sich an den Klassikern zu orientieren, werden Lehrbücher und Lexika der DDR benutzt. Der Aufbau des Sozialismus vollzog sich eben nicht wie im Lehrbuch der DDR. Abgesehen davon, dass sie kritiklos revisionistische DDR-Literatur zitieren, werden allgemein theoretisch die Gesellschaftsformationen dargelegt und lehrbuchmäßig die Übereinstimmung von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften als der Beweis für den Sozialismus und seine Unumkehrbarkeit behauptet. Schematisch stellt GwS dann fest, wenn Sozialismus da war und wenn das Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen übereinstimmte, dann darf und kann es kein Zurück mehr geben. Nur in der ersten Übergangsperiode kann es schon ein Zurück geben, weil diese Übergangsperiode ja noch kein Sozialismus ist. Daher gab es nach Meinung von GwS bislang in der Geschichte nur die allererste Übergangsperiode und in keinem Land den Sozialismus. Leider treffen für ihre Methode Beispiele von Leuten zu, die gehen mathematisch/ schematisch ran, die sagen da kommt erst das eine, dann das andere. Sie verlieren sich im Detail, verfitzeln sich und sehen den Gesamtzusammenhang nicht mehr und von einem Tag zum anderen wissen sie nicht mehr, was sie glauben sollen.

3. Da GwS den Sieg des Revisionismus und die Rückentwicklung zum Kapitalismus nicht erfassen können, benutzen sie die Kybernetik als Erklärungsmethode. Das ist eine Wissenschaft, die Mathematik und Mechanik zusammenführt und für die Computertechnologie von Bedeutung ist. Sie übertragen nun diese Methode auf die Gesellschaftsanalyse. Das Ergebnis ist ein schematischer und undialektischer Erklärungsversuch der Gesellschaftsentwicklung.

Zu Kapitel 2 und 3

Im 2. und 3. Kapitel versucht GwS folgende These zu beweisen:

„Fazit: Das Fazit aus den Punkten 3.1 – 3.12 lautet: Es gab keine kapitalistische Restauration einer sozialistischen Sowjetunion. Die Sowjetunion kann nicht sozialistisch gewesen sein. Es gab keinen Sozialismus.“ (S. 59)

1. Im 2. Kapitel ab Seite 29 gibt GwS die Haltung der sozialistischen Sowjetunion und hier insbesondere von Stalin über die Verwirklichung der Periode des Sozialismus wieder. Aus den Texten ist zu ersehen, dass die KPdSU(B) und Stalin ab Mitte 1930 von der Verwirklichung des Sozialismus und der Liquidierung der Ausbeuterklassen ausgehen.

Auch hier versucht GwS durch Zitatenklauberei scheinbare Widersprüche in den Aussagen einiger Theoretiker des Marxismus-Leninismus zu finden. Diese sind teilweise auf Verdrehungen und Verkürzungen in ihrer falschen Methode begründet. Da diese nicht wesentlich sind, möchten wir ihre falsche Methode nur anhand eines Beispiels darstellen.

S. 34: „Feststellung: Ein Nachweis darüber, dass die Sowjetunion in den ersten Jahren nicht sozialistisch war, muss nicht erfolgen, da sie selbst nicht vom Sozialismus ausging.“ Den Beweis glauben sie schon im ersten Teil erbracht zu haben. Ihr Beweis ist, dass die Klassiker von Übergangsperiode reden. Dazu haben wir schon im oberen Teil etwas gesagt.

Nachdem GwS also sagt, dass die Übergangsperiode von 1917 bis 1930 nicht sozialistisch war untersuchen sie im 3. Kapitel die Frage: „War die SU von 1930 bis 1953 sozialistisch und hat dann eine kapitalistische Restauration stattgefunden?“ Als Hauptwerk benutzen sie das Buch von Lion Wagner: „Sozialismus gab es nie“, das sie uns als Lektüre wärmstens empfehlen.

2. Anstatt die konkrete Wirklichkeit und die Diskussionen in der Sowjetunion (SU) über den Ablauf des Aufbaus des Sozialismus zu diskutieren, bleiben sie auf einer abstrakt-theoretischen Ebene hängen. Die Erfolge, aber auch die Misserfolge und die konkrete Entwicklung des Aufbaus des Sozialismus wurden durch die Sowjetunion in den Fünf-Jahrplänen, durch die KPdSU(B) auf ihren Parteitagen mit Fakten und Zahlen belegt. Jede Übergangsphase ist ausführlich diskutiert, praktiziert und ausgewertet worden. Dazu findet man bei GwS kein einziges Beispiel oder konkrete Fakten und Statistiken. Stattdessen führen sie eine formal-theoretische Diskussion und gehen auf den Stand von Marx und Engels zurück. Diese Klassiker haben den Sozialismus konkret nicht erlebt und haben deshalb nur die Grundzüge charakterisiert und Andeutungen über konkrete Ausformungen des Sozialismus gemacht, wie es ihnen in ihrer Zeit möglich war.

3. Die Abfolge der Gesellschaftsformationen ist ein beliebtes Argument von GwS. Sie behaupten:

„Der Marxismus geht davon aus, dass es kein Zurück auf die alte Stufe gibt. Also dass z.B. aus dem Kapitalismus kein Feudalismus mehr werden kann, (…)“. (Broschüre 1, S. 37) Etwas weiter sagen sie: „Schließen wir bestimmte Ausnahmen aus, die wir weiter unten noch ansprechen werden, so würde eine solche Aussage (es gab Sozialismus) der marxistischen Gesellschaftstheorie widersprechen, wäre das Axiom von der Abfolge kein Axiom, sondern eine anhand der Praxis widerlegte These. Also nach dem Marxismus kann es auch kein einfaches Zurück vom Sozialismus zu einer niedrigeren ökonomischen Gesellschaftsformation geben.“ Nach GwS kann es nur höher gehen, ein Zurück ist unmöglich. Höhere Abfolge bedeutet, hier zitiert GwS Lion Wagner: „Höher bedeutet gesellschaftlichen Fortschritt realisieren können (…). Gesellschaftlicher Fortschritt ist die ständige Lösung des Hauptwiderspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf immer höherem Produktivkräfteniveau (verkürzte Definition).“ (S. 37) Wagner und GwS leiten daraus ab, eine Nichteinhaltung des Gesetzes führt zum Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen. Wagner: „Der Sozialismus löste den Kapitalismus und der wiederum löste den Sozialismus ab? Das wäre der Bankrott der materialistischen Geschichtsauffassung (…).“ (S. 37) GwS dazu: „(….) so kann es sich nicht um Sozialismus gehandelt haben, da das sozialistische System die ständige Lösung dieses Hauptwiderspruchs verlangt und als Bedingung hat.“ (S. 41-42) „Wenn dieser Widerspruch (zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften) durch eine ständige Lösung angegangen worden wäre, so wäre eine Restauration des Kapitalismus nicht möglich gewesen.“ (S. 43) Er zitiert Marx: „Eine Gesellschaft geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoss der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (S. 39) Und schlussfolgert: „Wenn es eine sozialistische Gesellschaft gewesen wäre, so hätte ihr Untergang erst geschehen können, wenn alle Produktivkräfte entwickelt worden wären, wie es der Sozialismus zulässt. Es hätten dann auch höhere Produktionsverhältnisse an ihre Stelle treten müssen. Es traten aber kapitalistische Produktionsverhältnisse an ihre Stelle. (…) Hier entsteht also ein Widerspruch von der ‘es gab Sozialismus-These’ und diesem marxistischen Grundsatz, der sich nicht lösen lässt. (…) Im Grunde handelt es sich somit um eine Revision der marxistischen Gesellschaftstheorie.“ (S. 39-40)

Wagner erweitert diese These: „Aus dem Gesetz folgt, dass eine subjektiv bzw. objektiv begründete Nichteinhaltung dieses Gesetzes hinreichende Bedingung für den Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen ist.“ (S.41) GwS behauptet die Produktivkräfte waren auf dem Niveau des Kapitalismus S. 44. Wieder S. 44 „Da die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft aber an das Auftreten und die Lösung von Widersprüchen geknüpft ist muss die Existenz des Sozialismus bestritten werden.“

Die These von GwS zusammengefasst: Sie behaupten, die Lösung des Widerspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften ist der Motor der Entwicklung einer Gesellschaft. Die Gesellschaftsformationen lösen sich in aufsteigender Linie ab, es gibt kein zurück. Also vom Kapitalismus zum Sozialismus und dann gibt es keine Möglichkeit für die Restauration des Kapitalismus. In der Sowjetunion wurde der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften nicht gelöst, die Produktivkräfte waren auf einem kapitalistischen Niveau, es gab somit überhaupt keine Entwicklung zum Sozialismus, das war kein Sozialismus. Insofern gab es auch keine Restauration des Kapitalismus.

Diese These und die scheinbaren Belege zeigen folgendes:

* Anstatt den Aufbau des Sozialismus ganz konkret zu untersuchen, bleibt GwS an Lehrbuchformeln haften. Sie selber verfälschen den Marxismus für ihre Beweisführung.

Die Klassiker haben die Gesellschaftsformationsthese nie so mechanisch ausgelegt wie GwS das tut. Sie verfälschen die Klassiker Marx und Engels. Die Geschichte zeigt, dass es eine lange Phase braucht bis sich eine Gesellschaftsformation durchsetzt. Der Kapitalismus hat mehrere Jahrhunderte gebraucht, um sich als Weltsystem zu etablieren. Er hat viele Rückschläge überwinden müssen. Wo steht geschrieben, dass der Sozialismus beim ersten Anlauf das schafft?

* Sie bleiben der falschen Methode der Zitatenklauberei verhaftet, obwohl sie vorgeben, das überwunden zu haben.: „Und ich machte es im Prinzip wie Bland, dass ich mir Elemente ansah und nach für mich passenden Zitaten suchte.“ (Broschüre 2, S. 106)

* Sie reduzieren die gesellschaftliche Entwicklung und die Abfolge der Gesellschaftsformationen auf ein rein ökonomisches Problem. Sie behaupten, dass sich die Gesellschaft nur durch die Lösung des Widerspruchs von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften entwickelt. Eine einfache Frage zurück an GwS: Seitdem es den Kapitalismus gibt, existiert der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Im Imperialismus ist dieser Widerspruch bis ins Extreme angewachsen, er schreit geradezu nach einer Lösung. Nach der Behauptung von Wagner und GwS müsste der Kapitalismus schon längst abgelöst sein. „Aus dem Gesetz folgt, dass eine subjektiv bzw. objektiv begründete Nichteinhaltung dieses Gesetzes hinreichende Bedingung für den Untergang ökonomischer Gesellschaftsformationen ist.“ (Broschüre 1, S.41) Aber der Imperialismus/Kapitalismus lebt munter weiter!! Woran liegt das wohl??

Warum löst sich dieser Widerspruch nicht elementar? Darauf werden beide Autoren wohl noch ihr Leben lang warten. Das ist die Kapitulation von GwS vor dieser Aufgabe. Sie warten ab, bis sich der Widerspruch „elementar“, also von selbst, löst. Sie sehen nicht, dass ohne das bewusste Subjekt, ohne eine Kommunistische Partei, die die Vorhut des Proletariats bildet und die von der Mehrheit der Arbeiterklasse und der Werktätigen mitgetragen und unterstützt wird, ohne die bewusste Tat der Arbeiterklasse und Werktätigen mit Führung der Kommunistischen Partei, sich an die Spitze des historischen Prozesses zu setzen und die Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse erkämpft, entweder das System weiter besteht und letztlich die Menschheit in den Untergang führt. Die Rolle des Klassenkampfes wird absolut vernachlässigt. Und was ist mit der marxistischen Grunderkenntnis: Die Revolutionen sind der Motor der Geschichte? Haben sich GwS und Wagner bereits von der Revolution verabschiedet?

* Zur Rolle des Klassenkampfes/der Politik

Die wichtige Rolle des bewussten Subjekts wird hier völlig außer Acht gelassen. Fragen wie: Stärke der Arbeiterbewegung und Stand der Klassenkämpfe, der Widerspruch zwischen Imperialismus und unterdrückten Völkern, sowie weitere Widersprüche, wie die unter den Imperialisten selbst, finden in dieser Betrachtung überhaupt keinen Platz. Ein durch und durch ökonomistischer Ansatz, der auf den Selbstlauf der Geschichte hofft. Die Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Politik wird nicht analysiert. Aber Geschichte wird gemacht.

* Es wird methodisch mit vielen WENNS UND DANNS gearbeitet.

Die Analyse des Sozialismus wird zu einer reduzierten und vereinfachten Betrachtung am Beispiel eines Hauses. In der zweiten Broschüre wird auf Seite 110, Anhang 1, Systemdenken, das System Haus mit dem System Sozialismus verglichen. „So wie ein Haus aus bestimmten Bauteilen bestehen muss, muss auch der Sozialismus aus bestimmten Elementen bestehen.“ (Broschüre 2, S. 111) In Broschüre 1, S. 56 werden 10 Thesen aufgestellt, die als Elemente den Sozialismus charakterisieren sollen. Der „gesunde Menschenverstand“ soll nun anhand dieser 10 Thesen beurteilen, ob es Sozialismus war oder nicht. Der völlig abwegige Weg von Wagner und GwS liegt darin, dass sie vor der Aufgabe kapitulieren, ihre 10 Thesen anhand der Wirklichkeit der Sowjetunion kritisch zu prüfen. Anstatt eine marxistisch-leninistische wissenschaftliche Analyse durchzuführen, wird stattdessen der „gesunde Menschenverstand“ in einer flachen Variante bemüht. Dieses Kapitel heißt ja auch: „Widerspricht der gesunde Menschenverstand der Sozialismusuntergangsthese?“ (Broschüre 1, S. 55) Mit vielen WENNs und DANNs geht es weiter. „Wenn diese Thesen in der gesellschaftlichen Praxis realisiert waren, dann waren doch diese Gesellschaftssysteme die Systeme zumindest der beiden Hauptklassen der Gesellschaft, der Klassen der Arbeiter und Genossenschaftsbauern.“ (Broschüre 1, S. 57)

Warum überprüft ihr nicht eure Behauptung anhand der Realität der Sowjetunion? Der Sozialismus ist doch keine Wahrscheinlichkeitsrechnung! Die WENN-DANN-Methode lernt man in Deutschland gewöhnlich in der Grundschule, um den Kindern erste mathematische Logiksätze beizubringen. Wenn man nun diese Methode mit dem „gesunden Menschenverstand“ auf die Sozialismusanalyse anwendet, dann kann daraus nur das Verständnis eines Fünftklässlers über die Betrachtung dieser Fragen herauskommen. Auf diesem Niveau bewegt sich die Analyse von Wagner und ihrer Anhänger von GwS. „Aus dem ‘gesunden Menschenverstand’ folgt nun, dass sich die beiden Hauptklassen ihre Gesellschaftssysteme nicht so einfach wegnehmen lassen. Fakt aber ist, die Arbeiter und Genossenschaftsbauern als Klassen, verteidigten diese Ordnungen nicht! Für die Nichtverteidigung der untergegangenen Systeme gibt es scheinbar folgende Gründe:

1. Die Klassen des Proletariats und der Genossenschaftsbauern bemerkten nicht, dass der Sozialismus ‘allmählich beseitig’ und der Kapitalismus ‘allmählich restauriert’ wurde.

2. Die Arbeiter und Genossenschaftsbauern hatten unüberwindliche Ängste vor der in den Händen einer konterrevolutionären Minderheit liegenden Verfügungsgewalt über die politische einschließlich bewaffnete politische Gewalt.

3. Die Gesellschaftsordnungen entsprachen nicht im allgemeinen und wesentlichen, sondern nur im einzelnen den Interessen der beiden Hauptklassen.“ (Broschüre 1, S. 57)

Nach WENN und DANNS nun das SCHEINBARE. Die „Scheinbar-Methode“ findet sich noch an anderen Stellen bei Wagner. Anstelle einer fundierten Analyse, darf sich nun der Leser eine der drei Antworten mit seinem „gesunden Menschenverstand“ gleich einer Tombola aussuchen. Da nach Wagner die ersten beiden Gründe nur scheinbare Gründe sind, bleibt nur der dritte Grund, der vom „gesunden Menschenverstand“ als der richtige Grund betrachtet werden kann.

Um uns die Entscheidung zu erleichtern, wird uns zur Hilfe die Grundschulmathematik angeboten. „Daher fragt der ‘gesunde Menschenverstand’: Warum verteidigte erstmals in der Geschichte die herrschende Klasse, und diese ist ja im Sozialismus die Arbeiterklasse, die ihren Interessen entsprechende Ordnung nicht? Und der ‘gesunde Menschenverstand’ kommt zu folgendem Schluss: Die Arbeiterklasse und die Klasse der Genossenschaftsbauern würden den Sozialismus verteidigen. Da die beiden Hauptklassen der Gesellschaft die untergegangenen Ordnungen aber nicht verteidigten, waren sie kein Sozialismus.“ (Broschüre 1, S. 58) Das ist für jemanden, der vorgibt Marxist zu sein, nicht würdig. Das ist unter dem Niveau, was bürgerliche Wissenschaftler über die Sowjetunion schreiben. Das könnte eine einfache Erklärung eines bürgerlichen Lehrers über den Untergang des Sozialismus für seine Fünftklässler sein, aber mehr nicht. Um diese lächerliche Methode zu verstehen, zitiere ich an der angegeben Stelle weiter. „Auswertung: Aus der ‘Analyse’ gemäß dem ‘gesunden Menschenverstand’ folgt ein Zweifel daran, dass die untergegangenen Ordnungen Sozialismus waren. Der Zweifel wird gemäß der formalen Logik über den Bedingungssatz (hypothetisches Urteil) nach folgendem allgemeingültigen Schlussschema gestützt:

Wenn a so b : Wenn ein Gesellschaftssystem Sozialismus ist, so wird es vom Proletariat verteidigt. Nicht b : Das Gesellschaftssystem wurde aber vom Proletariat nicht verteidigt.

Also: nicht a: Also: Das Gesellschaftssystem war kein Sozialismus.“ (Broschüre 1, S. 58-59)

Das erinnert an einen Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Eine alte Bauernweisheit besagt: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann regnet es oder nicht!“ Die Wahrscheinlichkeit, dass es regnet ist genauso groß wie die Richtigkeit der Behauptung von GwS.

Die Krönung der wissenschaftlichen Beweisführung, dass es keinen Sozialismus gab, kommt noch. Weiter im obigen Zitat: „Das Schlussschema garantiert einen wahren Schluss bei einem wahren Bedingungssatz, und der Bedingungssatz ist wahr.“ So einfach ist die Sozialismusanalyse. Diese Art der Argumentationslogik kennen wir von der Jungen Union, wenn wir in der Schule uns über den Sozialismus stritten. „Als Grund für die Nichtverteidigung der untergegangenen Systeme durch die Hauptklassen der Gesellschaft verbleibt nur noch der dritte Grund. (Das Gesellschaftssystem war kein Sozialismus, Anm. d. V.) Dieser wird durch Befragung, persönliche Erfahrung und Kommunikation empirisch gestützt. (…) Will man über den aus dem ‘gesunden Menschenverstand’ entstandenen Zweifel Klarheit haben, bleibt nur noch eine wissenschaftliche Prüfung.“ Wenn wir die Wahl haben zwischen dem „gesunden Menschenverstand“ dieser Autoren und einer wissenschaftlichen Prüfung, dann bevorzugen wir lieber das Letztere. So eine bedeutende Frage „Was ist Sozialismus? Und gab es ihn in der SU?“ sollte man der marxistisch-leninistischen Wissenschaft überlassen. Und hier gibt es in der Tat noch eine große Notwendigkeit marxistisch-leninistischer Analyse, die die kommunistische Weltbewegung bis heute nicht ausreichend erfüllt hat. Die Aufgabe steht an, zu ergründen und zu begründen, was und wie war der Sozialismus in der Sowjetunion und nicht nur da, auch steht die Frage wie haben sich die Volksdemokratien in den osteuropäischen Staaten und in der VRChina herausgebildet, wurden sie sozialistische Staaten, war die DDR ein sozialistischer Staat etc. Es gibt Ansätze der Analyse, es gibt Grundsätzliches in Teilbereichen, aber daran muss unbedingt weiter gearbeitet werden. Vor allem aber steht die große Frage, warum war die Restauration des Kapitalismus in all diesen Ländern möglich. Auch hier gibt es zwar bereits wesentliche Erkenntnisse, aber sie sind auf keinen Fall ausreichend. Eine vertiefte Analyse des Scheiterns des Sozialismus in diesen Staaten muss vor allem in Bezug auf die Frage, was müssen wir MarxistInnen-LeninistInnen heute programmatisch anders planen, eine konkrete und umfassende Antwort geben.

Die Methode, die Ausgangspunkte und Schlussfolgerungen von GwS bieten hier keine positiven Anknüpfungspunkte zu der Aufgabe einen Teil beizutragen.

Die Autoren geben ja selber zu, dass ihre Methode des „gesunden Menschenverstands“ doch Zweifel an ihrer These offen lässt.

Und ihre wissenschaftliche Methode, um sie auf einen Punkt zu bringen, erweist sich als abstrakt, mechanisch, idealistisch und letztendlich als antimarxistisch-leninistisch.

November 2008