Mittendrin im Gezi-Widerstand: Tage der Kommune Einblicke – Eindrücke – Ausblicke!

Am 27. Mai 2013 begann die Rebellion. Wir, einige Genoss­Innen von Trotz Alledem waren für einige Tage (7.-12. Juni) mittendrin im Geschehen: 

Wir sind am 7. Juni im Widerstands-Camp. Der Staat hatte sich am 1. Juni vom Gezi-Park und Taksim-Platz bereits zurückgezogen. Inseln der Freiheit und eine ‚staatsfreie Zone’ entstehen. Die Polizei, der Staat sind nicht sichtbar. Natürlich sind hier viele Zivilpolizisten unterwegs. Alle Zufahrtsstraßen/Zugänge zum Taksim, außer der Fußgängerstraße İstiklal/Beyoğlu Caddesi, sind mit Barrikaden verriegelt und blockiert. „Barrikadenwächter“, die ständig in Kontakt mit den Gezi-Park-Besetzern sind, sichern sie ab. Im Falle von An- oder Übergriffen der Polizei werden diese sofort benachrichtigt. Jeden Tag machen Gezi-Aktivisten einen Solibesuch bei den Barrikadenwächtern, „kampferprobte“ Anhänger des Fußballclubs „Çarşı“ vom Verein Beşiktaş. Neben den Gezi-Jungaktivisten waren sie die zahlenmäßig stärkste Gruppe auf dem „Revolutions-Gezi-Park-Camp“. Zentrum des Widerstands Öffentlich, direkt zugänglich ist der Taksim nach wie vor. Sowohl von Kabataş aus mit der Seilbahn (Finiküler), als auch Şişli direkt mit der U-Bahn. Am Ausgang Talimhane, wo auch das Divan Hotel liegt, begrüßt die Gezi-BesucherInnen das Transparent „Krieg = Faschismus. Liebe in Tagen des Aufstands“. Den Gezi-Park kann man sich vorstellen als ein Rechteck (ca. 160 auf 200 m mit Ausbuchtungen). Bisher fristeten im Gezi-Park ca. 300 Bäume ihr kümmerliches Dasein in einbetonierten Grasflächen – ohne Blumen und von der Stadtverwaltung ziemlich vernachlässigt. Von den Bäumen sollten einige im Zuge von Bauarbeiten gefällt werden. Das lief im Rahmen des kompletten Taksim-Umbaus. Der Protest der Gezi-Jungaktivisten gegen die Baumfällung war das Fanal des Gezi- Widerstands… Die Jungaktivisiten arbeiten teils in zivilgesellschaftlichen Organisationen, befasst mit Fragen von Umwelt, Menschenrechten, Frauen, LGBT (Lezbiyen-Gay-Biseksüel-Transgender), etc. mit. Allerdings nicht in den kemalistischen Vereinen, die sich auch NGOs nennen, aber de facto CHP-Organisationen sind. Mit diesen, nicht in ‚traditionellen Gruppen/Parteien’ organisierten Jugendlichen haben wir vor allem während unserer Gezi-Tage diskutiert, an Meetings teilgenommen und am Kommune-Leben. Vom Taksim-Platz aus laufen wir über einige Stufen in den Gezi-Park hinein. Ein buntes, vielfältiges Jugendcamp. Die Gezi-Jungaktivisten am Infostand sagen stolz: „Das ist unsere Kommune.“ Sie sind von Anfang an da. Sie betreuen den Stand und die Bühne 24 Stunden lang. Sie sind die Anlaufstelle für alle Infos und berichten auf Nachfragen über den aktuellen Stand der Dinge. Was gelaufen ist und was geplant ist. Mit ihnen treffen wir uns immer wieder, erleben die spannendsten Diskussionen, und erfahren und lernen viel über den Widerstand. Viele Zelte, unzählige kreative Transparente in Türkisch, Kurdisch und Englisch. Phantasievolle Infostände, spannende Diskussionsgruppen, unterhaltsame Kinderbetreuung. Viele Menschen spielen, treiben Sport, diskutieren, lachen, singen... „Unser Traum“, so die Gezi-Jungaktivisten „ist eine freie Kommune, in der alle gleichberechtigt und tolerant zusammenleben. Von unten“. Manche ganz enthusiastisch, „ja eigentlich eine revolutionäre Kommune“. Als Zukunftsvision für eine andere Gesellschaft im ganzen Land, hoffen sie, werden solche Kommunen in allen Städten und Dörfern entstehen. Die Kommune Gezi-Park ist der Beginn. Früh morgens wird aufgeräumt. Müll weggeschafft. Frauen machen gemeinsam Yoga oder Pilates. Viele Interessierte und Revolutionstouristen sind im Gezi unterwegs. Internationalismus ist gefragt. Neugierig und freudig werden BesucherInnen aus anderen Ländern aufgenommen, befragt und informiert. Das Kommuneleben hat sich täglich weiter entwickelt. In Windeseile entsteht ein „Çapulcu Lerninstitut“. 1 In diesen Monaten laufen die staatlichen Aufnahmeprüfungen fürs Lyzeum, für Hochschulen und Unis. Die Vorbereitungskurse sind extrem teuer. Also im Gezi-Park Lernen und Kämpfen verbinden. Direkte Demokratie, wo man hinschaut und hinhört. Am Infostand können Vorschläge zu allem und jedem (Veranstaltungen, Diskussionsthemen, Aktionen, Gestaltung des Platzes, Versorgung etc.) gemacht werden. Auf den Versammlungen wird darüber debattiert und entschieden. Nachrichten, Infos, Kommentare, Fotos, Bilder werden sowieso überall angepinnt. Rund um den Taksim eine Vielzahl von Wandzeitungen und Graffiti. Die Studenten- und Jugendbewegung 1968 in Nordkurdistan/Türkei war gewaltig, kämpferisch und revolutionär. Aber in Zeiten der finsteren faschistischen Herrschaft, der barbarischen Folterkammern ging es jeden Tag um nicht mehr oder weniger als um Leben und Tod. Die Revolution war ernst. Der freiheitliche, umstürzlerische und tabubrechende Wind des Mai 1968 wehte nicht in diesem Land. Keine Sit-ins, keine freie Liebe, keine libertäre Bewegung, kaum ein Bruch mit feudalen Moralvorstellungen. Die Rebellion im Gezi-Park holt das, Jahrzehnte später, unter ganz anderen Vorzeichen nach. Der Çapulcu-Humor, z.B. die AKP-Hetze einfach mit Witz umzukehren, mitreißende Selbstironie, sich selbst auch nicht allzu ernst zu nehmen, weit gefächerte Toleranz für unterschiedliche Lebensweisen und Lebensentwürfe … das macht den Gezi-Geist aus. Auf dem Kommunemarkt wird getauscht. In der Freiluftbibliothek Bücher zum Mitnehmen. Innovativ startet der Gezi-Gemüsegarten die Selbstversorgungsproduktion. Über den Lautsprecher im Gezi-Park wird angesagt, nur ohne Geld zu tauschen oder Dinge zu verschenken. Kein Kommerz. Das ist nur teilweise umzusetzen. Die „fliegenden“ KleinhändlerInnen erobern auch den Gezi-Park: Köfte, Melonen, Tee, Kaffee, Simit, Taucherbrillen, Gasmasken, Fahnen etc. sind im Angebot. Hintergründe: Gezi – Taksim Staats-Projekt und Alternativen? Der Plan der „Istanbuler-Großstadt-Verwaltung“ für den Gezi-Park sieht eine Randbebauung im Stil einer alten osmanischen Kaserne vor. In dieser sollte ein Einkaufszentrum platziert werden. Der öffentlich zugängliche Gezi-Park, in der Mitte dieses Komplexes sollte verkleinert weiter existieren. Das steht im Rahmen des Gesamt-Projektes der Umwandlung des Taksim-Platzes in eine Fußgängerzone ohne Autoverkehr. Einstimmig wurde dieses städtebauliche Stadtplanungskonzept von den Parteien AKP, CHP, DSP (Demokratik Sol Parti, Ecevit Partei) und MHP durchgewinkt. Gegen diesen Beschluss entwickelte sich massiver Widerspruch. Verbände, Vereine und Organisationen, die in Taksim und in der näheren Umgebung vor Ort sind, schlossen sich zu einer Bürgerinitiative, der „Taksim Solidarität“ zusammen. Sie lehnt „das Projekt als ein Projekt der Betonisierung, der Entvölkerung ( der Begriff im Türkischen İnsansızlaştırmak heißt wörtlich übersetzt Menschenfreimachung) und Zerstörung der Identität dieses Gebietes“ ab. Erste Aktionen laufen im Juni 2012. Eine Sprecherin der Initiative verliest eine Presseerklärung auf dem Taksim, in der es u.a. heißt: „Mit diesem Projekt von der AKP sollen die Parkgebiete im Zentrum von Taksim zubetoniert werden. Im Namen der Plattform wurde bei der Stadtverwaltung dagegen protestiert. Der Taksim ist eine unter Denkmal stehende Geschichts- und Kulturstätte. Wir haben eine einstweilige Verfügung zum Stopp des Projektes beantragt, da Taksim ein Gesamtkonzept hat, und gesamt gesellschaftliche, geschichtliche, kulturelle und ökologische Werte hat. Der Taksim-Platz ist das wichtigste Architekturwerk des Städtebaus der Epoche der Republik. Verteidigen wir unseren Platz der Demokratie, wo wir unsere Feste, unsere Freude, unsere Reaktionen und Forderungen zur Sprache bringen.“ In der „Taksim-Solidarität“, so die Gezi-Jungaktivisten, sind bis zu 116 NGOs engagiert. Als Sprecher der Plattform treten vor allem Leute der „Union der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern“ (TMMOB) auf. Politisch ist diese von türkischen Nationalisten, vor allem der CHP dominiert. Die Gezi-Jungaktivisten berichten: „Wir haben mit 30 Kumpels im Gezi-Park kampiert, unsere Zelte aufgeschlagen und dann einen Stein ins Rollen gebracht. Wir wollen Mitsprache und Mitbestimmung in unseren Vierteln. Wer von der Plattform an den Gesprächen mit Erdoğan teilnimmt, wurde nicht wirklich demokratisch entschieden. Es ist nicht kommuniziert worden, wer da hin geht, wer in welchem Namen spricht usw. Das gleiche war bei dem Treffen zwischen Vertretern der Gezi-Plattform und Arınç, (stellv. Ministerpräsident) mit anschließender Presseerklärung. Auch hier können die Gezi-Jungaktivisten nicht nachvollziehen, warum da sechs Männer hingeschickt wurden, keine Frauen und niemand von den jugendlichen Aktivisten.“ Wir fragen nach den Einwänden der „Taksim-Solidarität“ gegen das Stadtplanungskonzept Taksim. Sie sind uns nicht ganz verständlich: „Klar, Einkaufszentren, Bäume fällen, Kommerzialisierung und Gentrifizierung sind Mist. Aber was meint ihr mit „Entvölkerung“ von Taksim? Wir verstehen die Planung so, es soll keinen Autoverkehr geben. Das ist ja eigentlich nicht unbedingt schlecht, und würde den Taksim-Platz selbst für Demonstrationen etc. noch viel besser nutzbar machen.“ „Aber“, wird uns entgegnet, „es ist doch ein traditioneller Verkehrsknotenpunkt. Und Versprechungen der AKP von Verkehrsberuhigung, Fußgängerzone glauben wir sowieso nicht. Das ist nur Betrug. Es werden sicher neue Gebäude hingesetzt.“ Wir fragen nach: „Am Taksim-Platz steht das ‚Atatürk Kulturzentrum‘ (AKM), architektonisch eine Scheußlichkeit, bereits völlig verfallen und entkernt. An der Frontseite sind jetzt riesige Transparente angebracht. Eine Forderung von Taksim-Solidarität ist, das Gebäude soll erhalten werden. Warum seid ihr dafür?“ Die Gezi-Jungaktivisten: „Damit können wir verhindern, dass die AKP an Stelle des AKM die nächste Moschee setzt. Aber wir sind auch keine Fans vom Personenkult um Atatürk.“ In der Diskussion entwickeln wir alle zusammen Alternativen: Warum nicht eine weltweite Ausschreibung für ein modernes, allen offen stehendes, vielfältig mit modernster Technik nutzbares Kulturzentrum fordern? Warum nicht positiv, für die Demokratie von unten, die den Gezi-Widerstand ausmacht, einen solchen Ort für die Zukunft reklamieren? Demokratie von unten und Instrumentalisierung Die Gezi-AktivistInnen berichten: „Die Kommune der Demokratie war von Anfang an für alle offen, die den Widerstand unterstützen. Wir hatten einige Transparente zur Umweltfrage, zu unserem Widerstand und unseren Forderungen aufgehängt. Wir wollten keine Partei- und andere Organisations-Transparente. Wir wollten nicht, dass einige alle anderen dominieren. Wir haben das über Lautsprecher immer wieder angesagt. Wir wollten, dass alle sich im Widerstand für unsere Hauptforderungen zusammenfinden. In Diskussionen und Aktionen war die Möglichkeit da, dass alle ihre Meinungen äußern und andere zu überzeugen suchen. Aber viele wollten sich gegenseitig toppen. Je größer und je mehr Transparente und Fahnen… und dann haben wir resigniert. Toll ist, wir haben im Gezi alle Grenzen überwunden. Hier ist das ganze Volk. Zum ersten Mal haben wir rechts/links, religiös/nicht religiös, LGBT und Hetero, Frauen/Männer, Kommunisten/Faschisten, Kemalisten/Nichtkemalisten, Kurden/Türken, alle zusammen.“ Wir wenden ein: „Ist es in der 17 Millionen Stadt nicht ein wenig übertrieben, selbst wenn Hunderttausende demonstrieren vom ganzen Volk zu reden? Auch viele ArbeiterInnen, Werktätige wählen die AKP. Wenn sie erreicht werden sollen, sollten dafür nicht auch Strategien entwickelt werden? Auch hier, vor Ort um den Taksim herum. Wie können die Aktivisten auf sie zugehen und wie sie einbeziehen? Wie sie von der AKP-Demagogie losreißen?“ Im Gezi läuft eine massive Instrumentalisierung. Die Transparente und Fahnen sind noch das Wenigste. Die nationalistischen Lobeshymnen auf Mustafa Kemal am offenen Mikrofon, die hundertmal, wieder und wieder aufgesagt werden. Die Gezi-Jungaktivisten, die auch das offene Mikro moderieren, fühlen sich da teils sehr ohnmächtig. Sie erzählen: „Wir haben auch schon diskutiert, ob wir das Mikro einstellen sollen. Wir wollen im Gezi-Widerstand erreichen, dass die da oben sich nicht in unser Leben einmischen. Aber in diesen politischen Querelen haben wir keine Chance uns da einzubringen. Wir wollen was ganz anderes, Demokratie von unten. Am offenen Mikro soll praktisch jeder das Recht haben hier zu sprechen. Alle sollen die zwei Minuten Redezeit einhalten. Das müssen wir ständig anmahnen. Wenn die zehnte Hymne auf Atatürk gesungen, oder zum 20. Mal gesagt wird, es geht nicht mehr um Gezi und Taksim, es geht um den Bestand der Türkischen Republik, sagen wir, ja wir haben das jetzt verstanden. Habt ihr nicht noch etwas anderes vorzuschlagen, anzusagen oder zu berichten. Leider beteiligen sich viele unorganisierte Gezi-BesetzerInnen auch nicht mehr am offenen Mikro.“ Eine andere zentrale Diskussion zwischen uns allen läuft immer wieder über Gewalt und Pazifismus. Die Gezi-Jungaktivisten wollen gewaltfreien Widerstand. Auch hier fühlten sie sich, vor allem von den Fußballclub-Fans in den Straßenschlachten völlig überrollt. Wir versuchen differenziert die Frage zu besprechen, wann ist Gewalt legitim, und wann nicht. In unsere Diskussion am Infotisch mischt sich ein junger Mann ein. Er bringt den Vorschlag ein: ein riesiges Plakat machen, mit dem Text „der größte Provokateur der Welt ist Tayyip“. Dann müssten noch eine große türkische Fahne und ein Mustafa Kemal Bild daneben aufgehängt werden. Wir alle fragen ihn: „Bruder gibt es nicht genug Fahnen und Bilder von Mustafa Kemal. Die AKP hat am ‚Atatürk Kulturzentrum’ auf dem Taksim alle Transparente entfernt. Was hat sie aufgehängt? Ein Riesentransparent von Kemal und türkische Fahnen. Und du willst noch mehr. Wir sind keine Soldaten von Kemal. Die Zeiten haben sich geändert.“ Wutentbrannt wendet er sich ab: „Mustafa Kemal hat uns befreit, wir sind Bürger der Türkischen Republik (TC).“ Eine imaginäre Grenze verläuft durch viele Debatten. Keine Witze, keine Kritik, bloß keine Auseinandersetzung über die Türkische Republik, über Mustafa Kemal und die türkische Fahne. Das ist ein Tabu. Aber auch in dieser Frage machen die Gezi-Jungaktivisten pfiffige Grenzüberschreitungen. Der Hardcore Slogan: „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ wird in Aktionen ironisch skandiert mit: „Wir sind die Soldaten Mustafa Kesers“. Keser ist ein beliebter Schnulzensänger à la turka, und sehr verwundert über seinen plötzlichen Ruhm. Oder andere Gezi-Gruppen setzen dagegen: „Wir sind von niemandes Soldaten!“ Der martialische Militarismus der Kemalisten wird von den Jungaktivisten damit einfach nur lächerlich gemacht. Ein „einsames“ Transparent im Gezi-Park thematisiert den Kemalismus: „Kein Durchkommen! Weder für den AKP noch für den Kemalismus Faschismus“. Unterschrieben mit „Apoistische Volksinitiative“. (Apo, Abküzung für Abdullah Öcalan, PKK) Nach der Diskussion sind wir noch einmal am offenen Mikro: Istanbuler BürgerInnen unterstützen den Gezi-Widerstand. BesucherInnen, die in den 1968er Jahren in der Studenten- und Jugendbewegung aktiv waren, sind gerührt und gratulieren der Jugend: Wie toll seid ihr. Welche Kreativität. Welchen Mut für Neues habt ihr. Die Jugend auf den Barrikaden, das ist wunderbar. Menschen aus vielen Ländern grüßen den Gezi-Widerstand. Zwischendurch laufen sexistische Schimpfkanonaden gegen die AKP. Die Frauenpower im Gezi-Widerstand ist für uns unglaublich beeindruckend. Verschiedene NGOs, Vereine, Gruppen haben ihre Diskussionszelte. Die Frauen sind diskussionsoffen, gleichzeitig aber treten sie mit klaren Ansagen gegen Männerchauvinismus und Gewalt gegen Frauen auf. Auch hier im kommunalen Leben im Gezi-Park. Sie greifen alles auf. Auch die vielen unscheinbaren, und doch so tief sitzenden Erniedrigungen und Diskriminierungen von Frauen und Mädchen. „Lass die Hausarbeit und die Welt steht still“. Ihr Leitspruch für die Diskussionskultur: „Kommt nicht mit Schimpfworten, sondern entwickelt Widerstand mit Verstand“. Feministische Frauen und Kopftuchtragende Frauen agieren in dieser Frage solidarisch zusammen. Zahlreiche Frauengruppen, LGBT sind aktiv im Gezi-Park und machen den sexistischen Umgang bewusst. Schimpfkanonaden gegen Erdogan wie „Wir ficken deine Mutter“ oder „Du Hurensohn“ werden nicht nur am offenen Mikro abgeschossen. Sie stehen auch auf Wandflächen um den Taksim-Platz. Aller paar Tage zogen Frauen los und überpinselten die sexistischen, frauenverachtenden Sprüche. Unermüdlich und konsequent. Die „Frau im roten Kleid“, Ceyda Sungur, ein Symbol des Gezi-Widerstandes und der Brutalität der Staatsmacht. Sie ist Aktivistin. Sie war bei den Sit-ins vor den Bulldozern der Baumfällaktion, die Gezi auslöste. Ihr Freund ist ein angesagter Twitter-Verfasser, den die AKP-Regierung namentlich als Rädelsführer angeprangert hat. Beim gezielten Angriff auf den Gezi-Park steht sie da gegen die Übermacht des Staates. Die brutale, immer wieder nachsetzende Gasattacke des Polizisten steht für die Machokultur der türkischen Gesellschaft. Männerdominanz und Chauvinismus ist teils heftig, so berichten die Frauengruppen. Eine der wichtigsten Gruppen die Fans von Çarşı, Beşiktaş, Fenerbahçe, Galatasaray, Trabzonspor. Sie feiern den Sieg der Einheit der Hooligans… Das Macho-Lied von Çarşı, das sie bei Auseinandersetzungen mit den Bullen immer singen, wurde zur Hymne und auch von vielen Linken übernommen. „Sprüh dein Gas, sprüh dein Gas, lasst uns mal sehen, was du kannst, nimm deinen Helm ab, lass mal deinen Knüppel zur Seite, und lass uns mal sehen, wer wirklich ‚Verrücktes Blut‘ hat.“ (Umgangssprachlich, vor Testosteron platzende junge Männer).“ Selbst manche Frauen singen mit und schwenken die türkische Fahne… Die feministischen Frauengruppen lehnen das Machogehabe entschieden ab. Sie setzen ihre Frauenkultur offensiv dagegen. …… Politisch stark präsent und tonangebend sind im Gezi-Park vor allem drei Gruppen, ÖDP, TKP und İşçi Partisi/ Tageszeitung Aydınlık und ihrer Jugendorganisation TGB (Jugendunion der Türkei) 2. Die ÖDP stand am engsten in Kommunikation und Diskussion mit den Gezi-Jugendlichen. Auch wenn sie sich ihnen reformistisch angedient haben. Die TKP war mit vielen Studenten vor Ort. Ihre Parole „Boyun eğme“, „Beuge dich nicht“ ist sehr treffend. Sie verbreitete sich schnell. Auf T-Shirts und Transparenten. Sie haben sie riesig am „Atatürk-Kulturzentrum“ gehisst. Alle waren begeistert. Am nächsten Tag wird daneben auf dem Transparent die Türkische Fahne und M. Kemal angebracht. Kemalistischer Nationalismus einer sich kommunistisch nennenden Organisation. Welch ein Wahnsinn. In ihrer Erklärung zum Gezi-Widerstand, heißt es in „Punkt 11: Die Fahne mit Halbmond/Stern, die mit dem Putsch vom 12. September (1980) versucht wurde als ein Instrument der reaktionären und chauvinistischen Angriffe gegen das werktätige Volk, die Linke, die Kurden, verwendet zu werden, wurde von unserem Volk aus der Hand des Faschismus genommen, und jetzt wieder zu einer Fahne der Deniz Gezmiş’s in der Hand des patrio­tischen Volkes umgewandelt.“ (Juni 2013). Die türkische Nationalfahne, mit der ein überbordender türkischer Chauvinismus transportiert wird, machen sie zur Freiheitsfahne! Die İşçi Partisi versucht mit allen Mitteln ihre nationalistische, putschistische Linie durchzusetzen. Ihr TV-Sender, „Ulusal Kanal“ (Nationaler Kanal) hat über Gezi 24 Stunden berichtet, vor allem über ihre eigenen Aktionen. Aber auch die Staatsgewalt dokumentiert. Zwischendurch senden sie Politspots in denen sie Freiheit für die faschistischen Putschisten-Generäle, angeklagt in den Ergenekon-Verfahren, fordern. Sexistische, chauvinistische und rassistische Berichterstattung ist ihre Spezialität. In Plakaten und in ihrer Propaganda wird die, den deutschen Faschismus verharmlosende Gleichsetzung zwischen Erdoğan und Hitler exzessiv betrieben. Am Eingang des Gezi-Park ist der Stand „Anarchistische Arbeit für die Revolution“, der Diskussionsforen und Veranstaltungen anbietet. Als wir da sind, schildert eine anarchistische Gruppe aus Griechenland ihre Erfahrungen in den aktuellen Kämpfen. Für sie ist Taksim „das revolutionäre Zentrum und die Revolution hat gesiegt.“ Taksim – revolutionärer Marktplatz Da der Gezi-Park übervoll war, hatten sich viele linke, revolutionäre und marxistisch-leninistische Gruppierungen sowie die BDP auf dem Taksim-Platz niedergelassen. Im Übergang vom Taksim-Platz zum Gezi-Park steht der Stand der „Antikapitalistischen Muslime“. Am 1. Mai 2012 sind sie das erste Mal legal mit ungefähr 500 Leuten aufgetaucht. Sie lehnen jeden Besitz ab, der „gehöre nur Gott“. Sie treten sehr diskussionsfreudig auf. Der AKP werfen sie vor: Aus ehemaligen Unterdrückten wurden jetzt Pharaonen. Aus Kämpfern für den Dschihad (Heiliger Krieg) wurden Baulöwen. Die AKP sei zu verweltlicht und zu wenig islamisch. Sie stehe nicht mehr für islamische Gerechtigkeit. Die „antikapitalistischen Muslime“ haben öffentlich gebetet. Die Taksim-Plattform hat über Lautsprecher das Freitagsgebet angekündigt und gefordert, niemand solle Parolen rufen. Gruppen wie TKP/TGB haben mitgebetet, ein dummes Anbiedern… Alle linken, revolutionären Parteien und Organisationen, aber auch „links“ nationalistische und putschistische waren vertreten. Das zentrale Denkmal auf dem Taksim für den „Befreiungskrieg“ war mit Transparenten von verschiedenen Organisationen wie TKP/ML und DHKP/C, aber auch türkischen Fahnen „geschmückt“. Die kurdische Befreiungsbewegung hatte sich zu Beginn der Rebellion zurückgehalten. Öcalan hat dann aufgerufen, der Friedensprozess solle nicht gestört, aber der Gezi-Widerstand unterstützt werden. Daraufhin war auch die BDP mit einem Stand und politischen Forderungen auf dem Taksim. Der Gezi-Widerstand ist unabhängig von den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung entstanden und angewachsen. Die organisierte Arbeiterbewegung war nur mit drei Organisationen und Ständen in Gezi vertreten. Eine davon Hava İş (Gewerkschaft der zivilen Luftfahrt). Sie führt aktuell einen Streik bei Türk Hava Yolları, THY (Staatliche Fluglinie) durch. Von den 16 000 Beschäftigten der THY sind 4 000 Flugpersonal, davon 1 600 gewerkschaftlich organisiert und sie streiken aktuell. Sie haben an ihrem Stand darüber informiert. Sie streiken teilweise außerhalb der Arbeitszeiten, da sie vor der Alternative stehen, Streik und sichere Kündigung oder arbeiten und in der Freizeit streiken. Der von KESK (Gewerkschaft der Werktätigen im Öffentlichen Dienst), DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei), TMMOB (Ingenieur- und Architekten-Kammer), TTB (Ärzteverein) und TDB (Zahnarztvereinigung) angekündigte Gezi-Generalstreik am 17. Juni war ein kompletter Flop. Lediglich 20 000 sind dem Aufruf nicht mit einem Generalstreik, sondern nur zu Demonstrationen landesweit gefolgt. Wie uns ArbeiterInnen erzählten, ist es angesichts der Arbeitsbedingungen auch fast nicht möglich gewesen, an der Gezi-Bewegung teilzunehmen. Nach wie vor gilt die sechs-Tage-Woche für die Mehrheit der ArbeiterInnen. Unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit wird sofort mit Rausschmiss beantwortet. Hauptgrund für das mangelnde Interesse ist aber sicher, dass die Gezi-Bewegung mit ihren Forderungen sehr entfernt ist von den Nöten und den Arbeits- und Lebensproblemen der Arbeiterklasse. Gezi ist eine Bewegung vor allem der städtischen Mittelschichten, die die ArbeiterInnen kaum berührt. Natürlich ist es zentral, die ArbeiterInnen breit und umfassend über Gezi zu informieren und zu motivieren, diesen Kampf auch als den ihren anzusehen. Die in die politischen Machtkämpfe involvierten Gewerkschaften haben daran aber kein wirkliches Interesse. 3 Medien & Hetze: Vorweg: Wie in den folgenden Flugblättern von Bolşevik Partizan aufgezeigt wird, läuft aktuell ein erbitterter Machtkampf unter den Herrschenden. Auf der einen Seite die alte kemalistische Bürokratie, Elite und türkische Großbourgeoisie. Auf der anderen die aufstrebende, anatolische islamische Großbourgeoisie (AKP). Das wird im Westen völlig verkannt. Die Kemalisten werden als die „aufrechten Hüter der laizistischen Demokratie“ hingestellt und die AKP als islamistisches Schreckgespenst. Dieser Machtkampf tobt auch auf dem Medienmarkt. Das wird im Westen gezielt ignoriert und auch von vielen linken, revolutionären Gruppen nicht gesehen. So schreiben bürgerliche wie linke Zeitungen: Die AKP dominiere die gesamte Medienlandschaft und habe alle anderen mundtot gemacht. Welch ein Blödsinn! Die Medienlandschaft ist zweigeteilt. Die Mehrheit der Medien ist in der Hand der Istanbuler kemalistischen Großbourgeoisie. 3 Wenn man im Gezi-Park hautnah die Rebellion erlebt hat, kann man sagen, keines der Medien in der Türkei hat auch nur annährend die Wahrheit berichtet. Nicht einmal im bürgerlich, liberalen Sinn. Es gab nur die zwei Seiten: Die Regierungsseite und die AKP-Medien hetzten über „die Chaoten, die bezahlten Provokateure der Auslandsgeheimdienste und Randalierer“. Die andere Seite, Ulusal Kanal, Halk TV und die Doğan-Medien, die über die Hälfte ihrer Berichte in dieser Zeit über Gezi machten, gaben sich als Demokratieverteidiger aus, um ihren Krieg mit der AKP auszufechten. Die Doğan-Medien sind Bestandteil einer der größten Holdings der Türkei. Politisch sind sie keine direkten Parteigänger der CHP. Aber politisch unterstützen sie die kemalistische Richtung. Sie spielten eine ausschlaggebende Rolle beim kalten Putsch 1997, als Erbakan (Refah Partei) weggeputscht wurde und Ecevit sowie die CHP davon profitierten. Ihre Zeitungen sind Milliyet, Hürriyet, sowie die Sender CNN, Kanal D und NTV. Sie geben daneben, als Standbein für die Zukunft, auch liberale Medien wie Radikal heraus. Beim Ausbruch der Gezi-Rebellion haben tatsächlich alle Medien nicht verstanden, worum es geht und welche Tragweite diese hatte. Aber nicht, weil sie „AKP gleichgeschaltet“ waren. Nein, weil sie alle nur Machtkämpfe untereinander führen und nicht kapiert haben, dass hier plötzlich junge Menschen, ohne politische Parteibindung, in das gesellschaftliche Leben direkt und mit einer unheimlichen Wucht eingreifen. Einfach so, direkt, aufmüpfig, fordernd, aktiv und mit ungewöhnlich spektakulären Aktionen. Ein aberwitziges Beispiel: Yılmaz Özdil, Journalist, einer der faschistischen Haupthetzer gegen AKP und PKK, ein fieser Demagoge, schreibt täglich einen Kommentar in der Hürriyet. Als die Gezi-Park-Bewegung begann, erschien zwei Tage lang kein Kommentar von ihm. Am dritten Tag beschreibt er in seinem Kommentar, dass er über die sozialen Medien Hassnachrichten und Bedrohungen erhalten habe. Tenor: „Du hast dich auch an die AKP verkauft“. Er zeigte sich erschüttert, warum die Leute kein Vertrauen in ihn haben. Er war im Krankenhaus, weil seine Frau Krebs hat, und konnte deswegen nicht schreiben. So hat Dr. Frankenstein von seinen verhetzten und geformten Wesen, es auf gleicher, eben seiner Ebene, zurückgezahlt bekommen. Clever haben sich die Kemalisten sofort auf die sozialen Medien gestürzt, um ihr politisches Spiel zu treiben. Am dritten Tag des Gezi-Widerstandes twitterten sie: „30 Tote auf Taksim“. Damit sollte Eskalation betrieben werden. Drei bis vier Millionen Twitter-Mitteilungen sind während des Gezi-Widerstands abgesetzt worden. Über die Hälfte der Nutzer setzen vor ihren Namen TC, (Türkische Republik), also zum Beispiel: tc ahmed, tc ayfer. Mehr Nationalismus geht kaum. Fragen über Fragen und wie weiter? Die Gezi-Jungaktivisten waren sehr begierig zu wissen, wie es in Deutschland mit der Demokratie läuft. Sie meinten, in einer Demokratie würde doch nicht so von Justiz und Polizei gehandelt werden wie in der Türkei. Wir schilderten die Realitäten und sie konnten es kaum glauben. Natürlich berichteten wir, ist die so genannte „Rechtsstaatlichkeit“ in der BRD weiter entwickelt als in der Türkei. Das Ausmaß von Willkür in allen Bereichen ist in der Türkei viel stärker und brutaler. Die Herrschenden in Deutschland haben auch eine realistische Einschätzung vom Potential der revolutionären und demokratischen Kämpfe. In der Hauptstadt Berlin finden fast täglich zu irgendeiner politischen Frage genehmigte Demonstrationen statt. Flüchtlinge ha­ben z.B. einen Platz in Berlin/Kreuzberg besetzt um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie werden natürlich schikaniert, aber zunächst können sie bleiben. Die Herrschenden in Europa sind taktisch viel geschickter. Aber im Kern verteidigen sie ihre „Demokratie“ natürlich auch mit der ganzen Staatsgewalt. Würde zum Beispiel im Zentrum der Hauptstadt Berlin der Platz vor dem Brandenburger Tor mit Tausenden von Menschen besetzt und durch Barrikaden alle Zufahrtsstraßen komplett gesperrt – wäre der Platz spätestens nach 24 Stunden geräumt. Wenn der CHP-Chef verkündet, in keiner westlichen Demokratie wird auf die Bevölkerung mit Gas geschossen, dann ist das eine Lüge. Natürlich wird CS-Gas von den Polizeikräften sowohl in Europa als auch in den USA gegen DemonstrantInnen eingesetzt. Und der CHP-Chef selbst würde, falls er jemals an die Regierung kommt, Gasbomben einsetzen und Gewalt ausüben lassen. Die Hauptdiskussion lief vor allem um die Frage, wie soll es weitergehen. Die Gezi-Jungaktivisten wollen, dass es so bleibt, wie es jetzt am Taksim und Gezi ist: „Wir wollen eine Volksregierung! Wir wollen keine MHP und CHP Regierung. Wir wollen die Herrschaft des Volkes und wir wollen keinen Putsch. Wir haben hier auf dem Platz die Kommune geschaffen. Wir organisieren alles selbst und haben unseren Lebensraum hier. Den wollen wir verteidigen und ausdehnen. Überall in der Türkei werden Kommunen entstehen. Wir sind das Volk, von überall her werden wir unterstützt. Wir werden auch bald hier mit der Produktion unserer Nahrung beginnen…“ Wir TA GenossInnen wollen ihren Enthusiasmus nicht bremsen. Gleichzeitig aber auch nicht mit unserer Meinung hinterm Berg halten. Wir geben zu bedenken: „Hauptparole der jetzigen Bewegung ist: Erdoğan und die Regierung sollen abtreten. Was würde dann passieren? İşçi Partisi/Aydınlık fordert das heutige Parlament – wie auch immer – aufzulösen und eine nationale Regierung und ein „Nationales Parlament“, zu bilden. Aber wenn Wahlen abgehalten werden, kommt das nicht durch. Die AKP wird wieder die Mehrheit bekommen. Entweder ist das eine völlig irreale Forderung oder es wird auf den Putsch gesetzt. Das ist die Strategie von Aydınlık.“ Wir geben auch zu bedenken, die Bourgeoisie hat sich jetzt von Taksim und Gezi zurückgezogen. Aber sie werden das nicht lange zulassen. Sie werden angreifen. Für die Besetzung gibt es heute keine langfristige Perspektive. Zusammen entwickeln wir Überlegungen: was ist wirklich konkret und realistisch. Die Bewegung und die Organisierung ist zentral. Die Gezi-Jungaktivisten sagen, ja wir haben hier gekämpft und jetzt bestimmen Aydınlık und andere. Darum müssen wir uns selbständig fragen, was wollen wir. Wir müssen selber initiativ werden und Konzepte entwickeln, wie wir längerfristig die Demokratie von unten organisieren. Brutale Räumung von Taksim und Gezi Kurz bevor der Taksim von den Staatskräften „zurückerobert“ wurde, gab Erdoğan eine Erklärung ab: Das Gezi-Bebauungsprojekt wird erstmal gestoppt. Falls die Gerichte die Gezi-Parkplanung bestätigen, soll trotzdem ein Referendum abgehalten werden, bei dem Bevölkerung darüber entscheiden wird. Am 12. Juni früh morgens wird der Taksim-Platz mit Wasserwerfern, mit Tränengas und schwerem Gerät geräumt. Viele Menschen sind von Taksim zum Gezi-Park geflüchtet. Sie haben von da aus versucht, sich zu wehren. Dann griffen die Bullen auch den Gezi-Park an. Am nächsten Morgen waren wir wieder da, um uns zu verabschieden. Die Gezi-Jungaktivisten waren an diesem Morgen unheimlich niedergeschlagen und enttäuscht. Noch einmal haben wir diskutiert, ist es nicht richtiger und taktisch klüger, sich auf das Referendum einzulassen. Jetzt zu sagen, ja wir haben gesiegt. Wir beenden die Gezi-Besetzung vorübergehend. Wir verfolgen die Entwicklung und greifen wieder ein, wenn die Entwicklung anders verläuft. Aber die Dynamik der Ereignisse verlief bereits völlig außerhalb des Einflusses der Jugendlichen. Schweren Herzens trennten wir uns. Unsere Tage im Gezi-Park waren vorbei. Und die Maschinerie der AKP-Regierung rollte weiter. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni wurde der Gezi-Park brutal geräumt, und das ganze Camp zerstört. Die Wasserwerfer tränkten die Gezi-Besetzer in Gas. Räumung, Zerstörung… Die Tage der Kommune der Gezi-Jungaktivisten sind vorbei. Aber es werden weitere folgen. Die Rebellion hat erst begonnen. Sie hat unglaublich viel bewegt und verändert. Und das kann niemand mehr rückgängig machen! Juli 2013 Kasten Bilanz: Staatsterror der AKP-Regierung Tausende Verletzte darunter viele Schwerverletzte, Tausende Festgenommene, Hunderte von Gerichtsverfahren. Vier Gezi-Aktivisten wurden ermordet. Mehmet Ayvalıtaş, 2. Juni in Istanbul. Ein aggressiv-brutaler Autofahrer rast absichtlich in eine Demonstrantengruppe, überfährt und tötet Mehmet. Abdullah Cömert, 3. Juni in Hatay. Abdullah nimmt an einer Gezi-Aktion teil. Nach Feststellung des ermittelnden Richters wird er mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Es ist davon auszugehen, dass er von Polizisten geprügelt und ermordet wurde. Es gibt aber auch Informationen, dass er durch Schussverletzungen umgebracht wurde. Ethem Sarısülük, 1. Juni in Ankara. Ein Polizist läuft in eine Gruppe von Gezi-Demonstranten, zieht seine Waffe, schießt angeblich drei Mal in die Luft und Ethem wird am Kopf getroffen. Er stirbt an den Verletzungen. Ali İsmail Korkmaz, 2. Juni in Eskişehir. Bei der Auflösung einer Gezi-Demonstration wird Ali in einer nächtlichen Treibjagd vom Mob oder der Polizei in einer Seitenstraße mit einem Knüppel massiv zusammengeschlagen. Er stirbt an den Folgen. Am 6. Juni stirbt der Polizeikommissar Mustafa Sarı in Adana. In der Verfolgung von jugendlichen Demonstranten, stürzt er über eine im Bau befindliche Brücke in die Tiefe. Er wird zum „Märtyrer“ des Türkischen Staates: „Gestorben im Kampf gegen die illegalen Aktionisten, die die Polizei mit Steinen angegriffen haben.“ Der Innenminister nimmt an seiner Beerdigung teil. Zynisch führt die CHP Sarı, den Täter, als einen Märtyrer des Gezi-Widerstandes an. In der internationalen Presse wird von fünf, „durch Polizeiangriffe, getötete Menschen, die friedlich gegen die Diktatur der AKP demonstriert haben“, berichtet. Auch in dem offenen Brief von bekannten Künstlern, wie Fazıl Say (Komponist, Pianist), Oscarpreisträgern wie Susan Sarandon an „den Ministerpräsidenten der Türkei“, Anfang Juli heißt es: „Wenige Tage nach der Räumung des Taksim-Platzes und des Gezi-Park mit unglaublich brutaler Gewalt, haben Sie (Erdoğan) ein Meeting abgehalten, das an den Nürnberger Reichsparteitag erinnert, mit völligem Desinteresse für die fünf Toten, deren einziges Verbrechen war, gegen ihre diktatorische Herrschaft zu opponieren“. In dem Brief wird als politisches Ziel der Bewegung angeführt: „Das sind junge Leute, die wollen, dass die Türkei eine säkulare Republik bleibt, wie sie von ihrem Gründer Kemal Atatürk gebildet wurde.“ Die CHP Propaganda fruchtet, Erdoğan wird mit Hitler gleichgesetzt und Atatürk verteidigt!