100 Jahre Völkermord an den Armeniern

Bewusst haben wir im Jahr 2015 unseren politischen Schwerpunkt auf den 100.Jahrestag des Völkermordes gelegt. Ziel ist die osmanisch-türkische und deutsche Verantwortung für diesen Genozid ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und Konsequenzen für unseren revolutionären politischen Kampf heute zu ziehen.

Januar 2015 haben wir in der TA 68 die gemeinsame Erklärung mit Bolşevik Partizan: „Pein und Leid des armenischen Volkes – 100Jahre Leugnung des Völkermordes durch den türkischen Staat“ abgedruckt. Die Grundsatzartikel „100Jahre Meds Yeghern – 2015 Zeit sich der Geschichte zu stellen“ und „Verschwiegene Wahrheit: Deutschlands Verantwortung im Völkermord an den Armeniern!“ waren Hauptthema der TA 69 im April. In dieser Ausgabe 70 weisen wir in nachfolgendem Artikel anhand der Politik der Türkischen Republik Kemal „Atatürks“ nach, wie der Völkermord an den ArmenierInnen nicht nur geleugnet, sondern vom türkischen Staat seit seiner Gründung, in gewisser Weise bis heute „fortgesetzt“ wurde und wird. Eine politische Auseinandersetzung über die Berechtigung einiger demokratischer Forderungen in der armenischen Frage zwischen TA-LeserInnen, der IA.RKP Österreich (Initiative für den Aufbau einer Revolutionär-Kommunistischen Partei) und uns schließt sich an. Wir veröffentlichen weiter einen Reisebericht aus Jerewan sowie Eindrücke von Aktionen aus Istanbul und Deutschland. In der nächsten Ausgabe, Januar 2016, werden wir einen Überblick zur Theorie und Praxis der revolutionären Linken in Türkei/Nordkurdistan zur armenischen Frage geben.

1923 bis 2015: Türkische Republik gegen das armenische Volk

Pogrom – Repression – Verfolgung – Vertreibung

Für die 1923 gegründete kemalistische Republik Türkei existierte keine „armenische Frage“. Von Anfang an bis heute beruht die Politik der türkischen herrschenden Klassen gegenüber dem armenischen Volk auf der Leugnung des Völkermords an den Armeniern 1915 während des Osmanischen Reiches. Bis Mitte der 1965er Jahre war der Völkermord ignoriert und totgeschwiegen. Damit wurde auch der Eindruck erweckt in den offiziellen Grenzen der Republik Türkei habe niemals eine armenische Nation existiert. Die wenigen überlebenden ArmenierInnen wurden ebenso wie Pontusgriechen, Juden und Assyrer als „Fremde Völker“ stigmatisiert, die vom türkischen Staat lediglich „geduldet“ waren. Falls die armenische Bevölkerung in Politik oder Medien thematisiert wurde, historisch oder auch in der Gegenwart, wurde und wird von ihr nur als „Feind“, „Verräter“, „Kollaborateur“ etc. gesprochen. Das Wort „Armenier“ wurde und wird immer noch als Schimpfwort benutzt.

Die erste Herausforderung für die Leugner des Völkermords und ihre Politik des Verschweigens war 1965 – das Jahr des ersten öffentlichen Gedenkens der ArmenierInnen an die Opfer des Völkermords.[1]

Die Äußerungen der Vertreter der türkischen Regierung, die Nachrichten und Kommentare der türkischen Presse waren von Feindschaft, Hetze und Drohungen gegen die armenische Community geprägt. Durchgehend wird die Formulierung vom „so genannter Völkermord“ verwendet. Das öffentliche Gedenken war der Anfang vom Ende der Politik des Verschweigens.

Als in den 1970er und 1980er Jahren bewaffnete Aktionen/Attentate armenischer Diaspora-Organisationen wie ASALA (Armenische Geheime Armee für die Befreiung Armeniens) auf türkische Diplomaten im Ausland durchgeführt wurden, fand das anhaltende Schweigen der Republik Türkei über den Völkermord sein Ende. Die türkische Regierung wurde durch die Attentate gezwungen, sich zu verhalten und politisch Stellung zu nehmen.

Die Leugnungspolitik tischte im Laufe der Jahrzehnte, entsprechend der politischen Konjunktur verschiedene Legenden und Lügengeschichten auf. In Kurzform: „Es war nichts. Alles was erzählt wird, ist eine Lüge“, „Es gab eine gegenseitige menschliche Tragödie“, „Die Armenier haben die Türken massakriert“, „Unerwünschte Ereignisse sind geschehen“, „Die Bewertung der historischen Fakten muss den Historikern überlassen werden.“, „Wir sind nicht für das Osmanische Reich verantwortlich“.

Ausgangssituation

Der Erste Weltkrieg ging für das Osmanische Reich mit der Unterzeichnung der Kriegskapitulation am 30. Oktober 1918 in Mudros zu Ende. Am 4. November 1918 wurde das „Deportationsgesetz“ (offiziell „Umsiedelungsgesetz“) aufgehoben. Innerhalb von vier bis fünf Monaten kamen Zehntausende überlebende Deportierte in ihre Heimatorte zurück. Übereinstimmend wird von historischen Quellen angegeben, dass in dieser Zeit noch ca. 280000 Angehörige des armenischen Volks in der Türkei lebten: Davon 150000 in Konstantinopel (Istanbul) und Smyrna (Izmir) und 130000 in anderen Orten und Landesteilen. Während des „Nationalen Befreiungskriegs“[2] unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) wurden ca. 100000 Armenier ermordet und Zehntausende mussten wieder fliehen.

Nach offiziellen Angaben der Volkszählung 1927 lebten in der Türkei 67745 ArmenierInnen. Die Armenische Gemeinde spricht von 80286. 1965 lebten nur noch 33094 ArmenierInnen in der Türkei. Die Zahl der ArmenierInnen, die ihre ethnische Herkunft und Muttersprache verheimlichten mussten, ist nicht genau bekannt. Ebenso die Anzahl der als „Kryptoarmenier“ bezeichneten, zwangsislamisierten ArmenierInnen. Vertrauenswürde HistorikerInnen sprechen bei den angegebenen Zahlen nur von „groben, vorsichtigen Schätzungen“. Selbst diese beweisen eine zwischen 1927 und 1965 mehr als 50%ige Dezimierung des armenischen Volkes. Fakt ist: Die armenische Nation wurde fast vollständig ausgelöscht und zu einer kleinen nationalen Minderheit gemacht.

Die türkischen Herrschenden zogen ihren Profit nicht nur aus der Vernichtung der armenischen Nation in Westarmenien und im Osmanischen Reich, sondern auch aus der massenhaften Enteignung der Armenier­Innen – zum größten Teil während des Völkermords 1915 und danach während des Kriegs zwischen 1919-1922. Das konfiszierte Eigentum der nicht muslimischen Nationen und Nationalitäten war eine der wirtschaftlichen Grundlagen der Türkischen Republik (bzw. der türkischen Bourgeoisie).

Von der Politik der nationalen Unterdrückung der Türkischen Republik waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten und insbesondere die ArmenierInnen betroffen. Elemente dieser rassistischen, chauvinistischen Politik waren Verfolgung, Diskriminierung und Türkisierungspolitik. Obwohl alle Nationalitäten – innerhalb der türkischen Grenzen – als „Türken“ deklariert wurden, wurden trotzdem Unterschiede gemacht.

Die muslimischen, ethnisch nicht türkischen Teile der Bevölkerung sollten türkisiert, bzw. zwangsassimiliert werden, aber die nicht-muslimischen Nationalitäten sollten mit allen Mitteln dezimiert werden. Diese kontinuierliche Politik übernahm die Türkische Republik von dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (İttihat ve Terakki Cemiyeti – Regierungspartei der Jungtürken seit 1908 im Osmanischen Reich) und praktizierte sie entsprechend der neuen politischen Lage.

Um den Kern dieser Politik gegenüber dem armenischen Volk aufzuzeigen, müssen wir die Politik der kemalistischen Bewegung in den Kriegsjahren nach dem Ersten Weltkrieg und die im Lausanner Vertrag festgelegten Rechte zum „Schutz der Minderheiten“ bewusst machen.

„Nationaler Befreiungskrieg“ und die „armenische Frage“ – 1919-1922

Nach offizieller Lesart türkischer Geschichtsschreibung, beginnt die Geschichte der Republik Türkei mit der Ankunft von Mustafa Kemal am 19.Mai 1919 in Samsun an der Schwarzmeerküste. Die von Kemal initiierten „Nationalen Organisationen“ bzw. die „Nationale Bewegung“ hätten keinerlei politische und organisatorische Verbindungen mit dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ gehabt. Sie hätten einen eigenständigen „anti-imperialistischen Unabhängigkeitskrieg“ geführt und sich von der alten politischen Macht, verkörpert durch das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ und seiner Führer völlig distanziert.

In Wirklichkeit aber hat sich die Geschichte anders zugetragen: Die nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Namen entstandenen „Nationalen Organisationen“ standen faktisch zum größten Teil unter Führung der ehemaligen Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“. Sie wurden in erster Linie nicht gegen die englische, französische oder italienische Besatzung gebildet, sondern gegen die armenischen und die griechischen Bevölkerungsgruppen. Eine der wichtigsten hieß „Vereinigung für die Verteidigung der nationalen Rechte der östlichen Provinzen“. Zur Entstehung dieser Organisationen führte Kemal Atatürk in seiner Rede im Oktober 1927 in Ankara vor den Abgeordneten und Delegierten der Republikanischen Volkspartei aus:

„Aus den vorstehenden Auseinandersetzungen geht, wie mir scheint, deutlich hervor, dass die etwaige Abtretung der östlichen Provinzen an Armenien das wichtigste Motiv für die Bildung dieser Vereinigung gewesen ist. Man nahm an, dass diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werden würde, wenn es denjenigen, die daran arbeiteten, die Armenier als eine Mehrheit in diesen Provinzen mit den ältesten geschichtlichen Rechten hinzustellen, gelingen würde, die öffentliche Meinung der Welt durch angebliche wissenschaftliche und historische Dokumente irrezuführen und alsdann die Verleumdung glaubwürdig zu machen, dass die mohammedanische Bevölkerung aus Wilden bestehe, die sich damit beschäftigten, die Armenier zu massakrieren. Infolgedessen setzte sich die Vereinigung das Ziel, die nationalen und geschichtlichen Rechte durch entsprechende Mittel und Argumente zu verteidigen.

Man fürchtete auch die Bildung eines griechischen pontischen Staates an der Küste des Schwarzen Meeres. Einige Personen hatten in Trapezunt einen weiteren Ausschuss mit dem Ziel gegründet, die Rechte der mohammedanischen Bevölkerung auf ihre Existenz zu wahren und zu verhindern, dass sie unter das Joch der Griechen fielen.“[3],[4]

Auch andere Quellen und Dokumente beweisen die personelle und politische Kontinuität zwischen dem 1918 aufgelösten „Komitee für Einheit und Fortschritt“ und den insbesondere von Enver und Talat Pascha neu gegründeten nationalen Organisationen.

Die kemalistische Bewegung sah in der kurdischen Nation auch eine Gefahr bei der Konstitution der türkischen Nation, allerdings wurde mit den feudalen Kurdenvertretern eine Allianz geschlossen, die unter dem Namen „Vereinigung für die Verteidigung des Rechts Anatoliens und der Rumeli (westliche Provinzen)“ firmierte.

Dazu stellte Atatürk in seiner Rede fest:

Die Bevölkerung Anatoliens ist von einem Ende bis zum andern zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die Entscheidungen sind in Übereinstimmung mit allen Kommandeuren und unseren Kameraden gefasst. Fast alle Walis und Gouverneure sind auf unserer Seite. Die nationale Organisation in Anatolien reicht bis zu den Bezirken und Gemeinden. Der auf die Bildung eines unabhängigen Kurdistans abzielenden Propaganda ist mit Erfolg entgegengewirkt und die Anhänger dieser Bewegung sind zerstreut worden. Die Kurden haben sich den Türken angeschlossen.[5]

Somit waren Armenier und Griechen die Hauptfeinde, die bekämpft werden sollten. Die Kongresse in Erzurum und Sivas im Jahr 1919 waren die wichtigsten Entscheidungsgremien der kemalistischen Bewegung. Der Kongress von Erzurum begann am 23.Juli 1919 und Atatürk führt die Beschlüsse über die „christlichen Elementen“ auf:

5. Den christlichen Elementen können keine Privilegien gewährt werden, die unsere politische Souveränität und unser soziales Gleichgewicht beeinträchtigen könnten.“ (ebenda, S.56)

Der Kongress von Sivas fand im September 1919 statt.

Zur griechischen und armenischen „Frage“ wurde laut Atatürk beschlossen: ‚Der Grundsatz einer einmütigen Verteidigung und eines einmütigen Widerstandes wird angenommen zu dem Zweck, jeder Okkupation oder Intervention Widerstand zu leisten, insbesondere jeder Bewegung, die einen griechischen oder armenischen Separatismus zu schaffen bestrebt ist.“ (ebenda, S.77)

Kemal warf auch die Frage auf, zu welchen Zugeständnissen die kemalistische Bewegung bereit wäre und gab folgende Antwort:

Nun ist es aber nicht nur heute praktisch unmöglich, den Armeniern auch nur einen Zoll dieses Gebiets abzutreten, wo die erdrückende Mehrheit türkisch und kurdisch ist, sondern es ist sogar wegen der gewalttätigen Gereiztheit und wegen der Rachsucht, die unter diesen Elementen herrschen, gefährlich, die Armenier in Massen anzusiedeln, selbst wenn diese kommen würden, ihre Wohnsitze wieder einzunehmen. Das weitestgehende Zugeständnis, das man den nichtschuldigen osmanischen Armeniern machen könnte, könnte folglich nicht anderes sein, als unter billigen und gleichen Bedingungen ihre Rückkehr zu dulden.“ (Hervorh. TA) (ebenda, S.90)

Dieses mögliche „Zugeständnis“ wurde nicht verwirklicht. Die ArmenierInnen erhielten kein Rückkehrrecht. Das Fundament der bis heute andauernden Leugnungspolitik des Völkermords an den ArmenierInnen durch den türkischen Staat wurde bereits von Atatürk gelegt:

Ohne Zweifel entsprachen die Behauptungen über die Armeniergemetzel nicht dem wirklichen Sachverhalt. Im Gegenteil belästigten die Armenier im Süden, von den fremden Truppen bewaffnet und durch den Schutz, den sie genossen, ermutigt, die Mohammedaner in ihrem Bereich. Von einem Geist der Rache beseelt, trieben sie allenthalben zu einer unversöhnlichen Politik des Mordes und der Ausrottung. Auf diese Weise war das tragische Ereignis von Marasch zustande gekommen. Die Armenier hatten, indem sie mit den fremden Truppen gemeinsame Sache machten, durch Geschütz- und Maschinengewehrfeuer eine alte mohammedanische Stadt wie Marasch von Grund auf zerstört. Sie hatten Tausende von unschuldigen und wehrlosen Müttern und Kindern getötet. Die Armenier waren die Urheber dieser in der Geschichte einzig dastehenden Brutalität. Die Mohammedaner hatten nur Widerstand geleistet und sich verteidigt, um ihr Leben und ihre Ehre zu retten. (...) Die Wahrheit war, dass unsere Nation nirgends ohne Grund eine aggressive Haltung gegen irgendein fremdes Element eingenommen hatte.“ (ebenda, S.356-357)

Hier bewertet Atatürk nicht Ereignisse aus den Jahren des Völkermordes 1914-1918, sondern aus dem Zeitraum von 1919-1920. Die Existenz eines armenischen Bataillons in der französischen Armee während des Befreiungskriegs wurde gegen die ArmenierInnen benutzt. Sie wurden alle der „Kollaboration mit dem Imperialismus“ beschuldigt sowie als „fremdes Element“ abgestempelt.

Am Anfang des „Nationalen Befreiungskriegs“ war es für die kemalistische Bewegung notwendig sich vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ zu distanzieren. So berichtete Atatürk über den Kongress von Sivas: „Die ersten drei Tage, d.h. der 4.September, der Tag der Eröffnung, der 5.und 6. September, wurden mit Diskussionen über die Notwendigkeit ausgefüllt, einen Schwur zu leisten, um zu bestätigen, dass wir keine ‚Unionisten’ waren, ferner mit der Redaktion der Formel dieses Eides, einer Adresse an den Sultan, der Antworten auf die zu der Eröffnung des Kongresses eingegangenen Telegramme, und besonders mit der Erörterung der Frage, ob der Kongreß sich mit Politik befassen soll oder nicht.“ (ebenda, S.76)

Über die politischen Motive dieser Distanzierung stellt Taner Akçam fest: „Die Distanzierungsbekundungen erfolgten gezwungenermaßen und erklären sich aus der politischen Stimmung, in der die Partei für den Krieg und den Völkermord verantwortlich gemacht wurde, insbesondere vom Ausland. Halil Pascha beschrieb dieses Doppelspiel in seinen Memoiren folgendermaßen: ‚Führend unter denen, die in Erzurum die Aktivitäten leiteten, die in Aydın und der Ägäis-Region das Volk organisierten, waren İttihadisten. Nur den ausländischen Mächten gegenüber mußte verheimlicht werden, daß die Bewegung eine Bewegung der İttihadisten war.’“6

Offiziell hatten die Kemalisten sich vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“ distanziert, aber zugleich dessen Politik weitergeführt. Der deutsche Historiker Kurt Ziemke hat in seinem Buch „Die Neue Türkei“, folgende zutreffende Einschätzung vorgenommen:[6]

Das heutige kemalistische Regime hat die Anhänger des früheren jungtürkischen Komitees geradezu geächtet, so dass es den Anschein hat, als ob der jetzige Kurs in schroffem Gegensatz zu der jungtürkischen Linie eingeschlagen wurde. Das ist bei weitem nicht der Fall. Das kemalistische Programm ist im Grunde genommen eine Fortführung des jungtürkischen unter Anpassung an die veränderten Verhältnisse (...)[7]

Letztendlich stellte Atatürk brutal offen, chauvinistisch klar und deutlich am 16.März 1923 in Adana in einer Ansprache an Kleinhändler fest: „In diesem fruchtbaren Land haben die Armenier kein Recht. Das Land gehört euch, gehört den Türken. Dieses Land war in der Geschichte türkisch, ist also türkisch und wird ewig als türkisch leben.[8]

In den Jahren 1919-1922 wurde nicht nur gegen die imperialistische Entente, sondern auch gegen die im Land lebende armenische und griechische Bevölkerung Krieg geführt. Hunderttausende wurden ermordet und die Mehrheit der Pontusgriechen wurde deportiert. Auch die türkische „Nationale Bewegung“ wollte auf keinen Fall ein Armenien zwischen der Türkei und Aserbaidschan. Hätten die damaligen Kräfteverhältnisse es erlaubt, hätten sie die damalige Armenische Republik unter Führung der Daschnaken besetzt und das armenische Volk vernichtet. Der Roten Armee der jungen Sowjetmacht ist es zu verdanken, dass es dazu nicht gekommen ist. Sie hat die armenischen KommunistInnen unterstützt und verhindert, dass die türkische Armee weitere Massaker verübte.

Lausanner Konferenz und Armenische Frage

Laut Atatürks Darstellung wurde diese Frage „In Lausanne: (...) ausgeschaltet.“[9]

Kurt Ziemke berichtet darüber wie folgt: „Auf dem ersten Teil der Lausanner Konferenz, zu der armenische Delegationen überhaupt nicht zugelassen wurden, haben die Alliierten wiederholt versucht, die Frage des Nationalheims [gemeint ist ein armenischer Staat in Westarmenien, Anmerkung TA] anzuschneiden. Ismet weigerte sich, sie überhaupt zu diskutieren. Es blieb nichts anderes übrig, als diese Weigerung zu registrieren. Der erste Vertragsentwurf vom 31.Januar 1923 enthielt mithin keine Sonderbestimmungen mehr für die Armenier. Die Alliierten hatten sie aufgegeben. Nach Wiederaufnahme der Lausanner Konferenz sind die Alliierten auf das Nationalheim nicht wieder zurückgekommen. Es war allerdings noch ziemlich viel von Armeniern die Rede, aber nur im Zusammenhang mit den Wirkungen der zu vereinbarenden Deklaration über die Amnestie. In den Sitzungen … verlangte Sir Horace Rumbold wiederholt von der türkischen Delegation die Abgabe einer bündigen Zusicherung, dass der Erlaß dieser Amnestie den geflüchteten Armeniern die freie und ungestörte Rückkehr gestatte. Ismet antwortete mit einem klaren Nein; er erklärte ausdrücklich, dass die Amnestie den Armeniern nicht die Rückkehr erlaube und das überhaupt eine ‚rentrèe en masse’ [Massenrückkehr, Anmerkung TA] aus Gründen der Staatssicherheit ausgeschlossen sei.

Die Alliierten haben sich auch mit dieser Ablehnung zufrieden geben müssen. Die Aussprache vom 19.Mai hat die Lage der armenischen Flüchtlinge wenigstens geklärt. Die Rückkehr in die Türkei bleibt ihnen verschlossen; nach türkischer Auffassung haben sie ferner ihre türkische Staatsangehörigkeit verloren, sie gehören also nicht zu den durch den Lausanner Vertrag geschützten Minderheiten, sondern sind heimatlos geworden. Sie müssen sich ein anderes Vaterland suchen. Der Lausanner Vertrag begrub die letzten Hoffnungen der Armenier.“[10]

Die deportierten ArmenierInnen, die den Völkermord überlebten, erhielten kein Rückkehrrecht. Die Türen und Tore der „Jungen Türkei“ blieben ihnen für immer verschlossen. Mit dem Lausanner Vertrag wurde die Einverleibung Westarmeniens in das Staatsgebiet der Türkei international legitimiert und festgeschrieben.

Lausanner Vertrag und Schutz der Minderheiten

Der Lausanner Vertrag war ein von den imperialistischen Siegermächten, allen voran England und Frankreich, diktierter Vertrag. Aber für die türkische „Nationale Bewegung“ war er ein enormer Erfolg. Denn er revidierte den Vertrag von Sèvres, indem die internationale Anerkennung des türkischen Staats deklariert wurde. Er trat am 6.Juni 1924 in Kraft.

In den Artikeln 37 bis 45 wurde der „Schutz der Minderheiten“ festgelegt. Für die Anerkennung als Minderheit war das einzige Kriterium die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und nicht zu einer Nation bzw. Nationalität. Daraus folgte die Benennung „nicht-mohammedanische Minderheiten“. Unter diesem Begriff „nicht-mohammedanische Minderheiten“ wurden später offiziell nur Armenier, Griechen und Juden gefasst, Assyrer beispielsweise wurden nicht einmal als „nicht-mohammedanische Minderheit“ anerkannt.

Artikel 37 des Lausanner Vertrags legte fest: „Die Türkei verpflichtet sich zur Anerkennung der in Artikel 38 bis 48 festgelegten Bedingungen als Grundgesetze, kein Gesetz, keine Verordnung oder offizielle Handlung darf diese Bedingungen beeinträchtigen oder verletzen.[11]

Laut Artikel 38-43 haben die „nicht-mohammedanischen Minderheiten“ gleiche bürgerliche und politische Rechte: Zulassung zu öffentlichen Ämtern; Recht auf völlige Freizügigkeit; keine Beschränkung irgendeiner Sprache im persönlichen Verkehr, im Handel, bezüglich der Religion, in Presse oder Veröffentlichungen; Gleichberechtigung durch die Errichtung, Verwaltung und Kontrolle religiöser und sozialer Institutionen aus eigenen Finanzmitteln, wie Schulen und andere Erziehungsinstitutionen sowie das Recht in diesen, ihre eigene Sprache zu gebrauchen und ihre eigene Religion frei ausüben zu können. Diese Festlegungen entsprachen international anerkannten Minderheitenrechten. Das war ein „gutwilliger“ Wunschzettel, der aber in der Türkei das Papier nicht wert, auf dem es stand. Der letzten Absatz des Artikel42 des Lausanner Vertrags lautete: „Die türkische Regierung verpflichtet sich, den Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und anderen religiösen Einrichtungen der oben erwähnten Minderheiten, völligen Schutz zu garantieren. Die gesamte Vollmacht wird den religiösen Stiftungen garantiert, sowie den religiösen und gemeinnützigen Institutionen der genannten Minderheiten, die gegenwärtig in der Türkei existieren, und die türkische Regierung wird die Bildung neuer religiöser und gemeinnütziger Institutionen sowie aller notwendigen Schritte, die anderen privaten Institutionen dieser Art garantiert sind, nicht ablehnen.“ (ebenda)

Die mit dem Lausanner Vertrag festgeschriebenen Rechte hätten die christlichen und jüdischen Minderheiten vor dem „Untergang“ geschützt, wären sie eingehalten worden. Wie die kemalistischen Machthaber mit dem „Schutz der Minderheiten“ umgegangen sind, sehen wir an den Beispielen, aus 91Jahren Geschichte der Republik Türkei.

Republik Türkei und rassistische, faschistische Unterdrückung

Die Republik Türkei wurde am 29.Oktober 1923 gegründet. Nachdem die kemalistische Herrschaft sich sicher fühlte, dass sie die Staatsmacht in Händen hatte, ging sie zu einem faschistischen Herrschaftssystem über. Jegliche oppositionelle Tätigkeit wurde verboten. Eine Türkisierungs- und Zwangsassimilationspolitik wurde brutal umgesetzt. Davon waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten betroffen. Nach wie vor waren für den türkischen Staat die Minderheiten „fremde Völker“ und „innere Feinde“, die nicht türkisiert werden konnten. Die logische Konsequenz für die Herrscher war, eine Türkei „frei von Minderheiten“ zu schaffen. Diese rassistische Politik beinhaltete auch die mörderische Haltung des Staates. Es war dies die Kontinuität der rassistischen Politik des Pantürkismus/Panturanismus, die unter der kemalistischen faschistischen Diktatur in anderer Form fortgeführt wurde. Alle „nicht-mohammedanischen Minderheiten“ waren von dieser Politik unterworfen.

Wir beschränken uns hier auf das spezifische Vorgehen der türkischen Herrschenden gegenüber dem armenischen Volk, das darauf ausgerichtet war, seine Existenz im türkischen Staatsgebiet möglichst zu vernichten: Im wirtschaftlichen Bereich durch Enteignung, bezüglich der Kultur durch willkürliche Unterdrückung und Türkisierung praktiziert durch Verbot und Zerstörung von Schulen, Sprache, Kirchen, Geschichte... Da nicht alles, was dem armenischen Volk in den Jahren 1923-2015 angetan wurde, in einem Artikel ausführlich dargestellt werden kann, führen wir zentrale Ereignisse an, die beispielhaft für die ungeheure Repression des türkischen Staats gegen das armenische Volk stehen.

Eckpfeiler der Enteignung

Die größte Enteignungsmaßnahme wurde während des Völkermords verwirklicht. Das gesamte Hab und Gut der Deportierten, Ermordeten wurde beschlagnahmt. Die Herrschenden, Bürokraten, Befehlshaber und auch Teile der Bevölkerung der türkischen, kurdischen und anderen islamischen Nationen und Nationalitäten haben sich daran maßlos bereichert. Damit war der Enteignungsprozess aber noch nicht abgeschlossen. In den Jahren 1919-1923 wurde dieser Prozess als die kemalistische Bewegung sich für das Ausland angeblich von den Ittihadisten distanzierte, vorübergehend gestoppt.

Die offizielle Grundlage der Türkisierungspolitik auf wirtschaftlicher Ebene wurde dann mit dem „Wirtschaftskongress von Izmir“ im Frühjahr 1923 gelegt. Unter den 1135 Delegierten war kein einziger Vertreter der nicht islamischen Minderheiten. Der Kongress setzte sich das Ziel, die noch nicht erstarkte türkische Bourgeoisie zu unterstützen und zu fördern. Am 15.April 1923 wurde das „Gesetz der aufgegebenen Eigentümer“ erlassen, das die Beschlagnahmung der Besitztümer der während Völkermord und „türkischem Befreiungskrieg“ ums Leben gekommenen oder nicht mehr in der Türkei lebenden ArmenierInnen „regelte“.

In der Diskussion über dieses Gesetz in der „Türkischen Großen Nationalversammlung“ brachte als einziger der Abgeordnete Ahmed Rıza einen grundlegenden Einwand vor: „Es ist gesetzeswidrig, das armenische Vermögen für die Armenier als ‚aufgegebene Güter’ zu klassifizieren, die Eigentümer gaben ihr Eigentum nicht freiwillig auf; sie wurden gewaltsam und erzwungenermaßen von ihren Wohnorten verschleppt und vertrieben. Nun unternimmt die Regierung Anstrengungen deren Güter zu verkaufen... Falls wir ein verfassungsmäßiges Regime wären, das im Einklang mit dem Verfassungsrecht arbeitet, können wir dies nicht machen. Das ist grauenhaft. Nimm mich am Arm, wirf mich aus meinem Dorf, verkaufe dann meine Waren und mein Eigentum, so etwas ist nie zulässig. Dies erlaubt weder das Gewissen der Osmanen noch das Gesetz.[12]

Er legte den Finger in die Wunde. Die ArmenierInnen hatten ihre Wohnorte und ihren Besitz nicht freiwillig „aufgegeben“, sondern wurden deportiert, vertrieben und zahlreiche ermordet.

Dieses Gesetz war gleichzeitig Instrument der Leugnungspolitik der kemalistischen Bewegung gegenüber dem Völkermord an den Armeniern.

Diese Türkisierungspolitik und das Konfiszieren armenischen Eigentums war wichtiger Hintergrund dafür, warum im Lausanner Vertrag den deportierten und überlebenden Armeniern auf keinen Fall ein Rückkehrrecht eingeräumt werden sollte. Das war den türkischen Herrschenden aber noch nicht genug. Um sicher zu sein, dass kein Armenier nach Westarmenien zurückkehren konnte, wurden weitere Maßnahmen getroffen: Ausbürgerung! Am 31.Mai 1927 wurde das Gesetz Nummer 1041 verabschiedet, womit alle „Osmanischen Bürger“, die zwischen dem 24.Juli 1923 und dem 31.Mai 1927 nicht in der Türkei wohnten, ausgebürgert wurden. Davon waren vor allem ArmenierInnen aber auch andere christliche Minderheiten betroffen. So sicherten sich die türkischen Herrschenden die enteigneten Besitztümer der armenischen Bevölkerung.

Der wichtigste Eckpfeiler der Enteignung auch für spätere Jahre, war das November 1942 in Kraft getretene „Vermögenssteuer-Gesetz“. Im Text wird kein Unterschied zwischen mohammedanischen und nicht-mohammedanischen BürgerInnen gemacht. Es zielte aber hauptsächlich darauf ab, die nicht islamischen Minderheiten zu enteignen. Die konkreten Angaben zeigen es deutlich: Vermögenssteuer mussten nach diesem Gesetz 87% der nicht muslimischen Minderheiten leisten. Die Höhe der Vermögenssteuer wurde willkürlich festgelegt: Die armenische Bevölkerung wurde, verglichen mit ihrem Vermögen, mit 232%, die jüdische mit 179% und die griechische mit 156% besteuert! Dagegen sollten die islamischen, türkischen Händler und Kapitalisten nur 4,94% Steuer zahlen. Der Besitz derjenigen, die die Steuer nicht aufbringen konnten, wurde gepfändet und zu niedrigsten Preisen an die türkische Bevölkerung versteigert.

Die Menschen, die die vorgeschriebene Wuchersteuer nicht aufbringen konnten, wurden zu Zwangsarbeit, vor allem nach Aşkale, in „Arbeitslager“ verbannt. Alle Verbannten waren keine Muslime. Die türkische Regierung ahmte Hitler-Deutschland nach: „Arbeitslager“ wurden offiziell auch „Konzentrationszentrum“ genannt! Bis dieses Gesetz im März 1944 abgeschafft wurde, hatten viele Betroffene ihr gesamtes Vermögen verloren. Allein in Istanbul wurden Tausende Immobilien und Eigentum der Minderheiten beschlagnahmt. Der türkische Staat hatte einen weiteren
Schritt in der totalen Enteignung der Minderheiten verwirklicht und die türkische Bourgeoisie weiter ökonomisch gestärkt.

Für die Enteignung per Gesetz war ein weiterer wichtiger Eckpfeiler der Beschluss des Kassationsgerichtshofs vom 8.Mai 1974 gegen Stiftungen der nicht islamischen Minderheiten. Im Jahr 1936 hatte die türkische Regierung von diesen Institutionen eine Auflistung ihres gesamten Immobilienbesitzes verlangt. 1974, während der Zypernkrise wurden alle Vermögenswerte, die nicht in den Besitzunterlagen von 1936 aufgelistet waren, alle Immobilien, die den Gemeinnützigen Stiftungen nach 1936 übereignet wurden, als illegal erworbene deklariert und etwa 1410 Immobilien – Kirchen, Schulen, Wohnbauten, Krankenhäuser, Sommercamps, Friedhöfe, Waisenhäuser – vom Staat konfisziert.

Wie mit der Enteignung weiterhin umgegangen wurde, zeigt uns die Haltung des türkischen „Nationalen Sicherheitsrates“ 2005. Zur Debatte standen die Digitalisierung und Offenlegung der osmanischen Landregistrierung, der Schriftgüter und Urkunden. Der Nationale Sicherheitsrat „warnte“: „Die osmanischen Aufzeichnungen, die in den Generaldirektionsbüros der Grundbuch- und Katastererhebung aufbewahrt werden, müssen verschlossen und der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden, da sie das Potential haben, von den Behauptungen zum angeblichen Völkermord und Eigentumsansprüchen gegen die Vermögen der Staatlichen Wohltätigkeitsstiftung ausgenutzt zu werden. Die Öffnung derer zum allgemeinen öffentlichen Gebrauch ist gegen die Interessen des Staates.“ (ebd)

Entsprechend dieser „Warnung“ wur­de das Projekt fallen gelassen und die „Aufzeichnungen“ sind weiterhin in den Schränken verschlossen und unzugänglich, bis heute.

 Kurze Chronologie staatlicher Repression und Restriktion

Die kemalistische Bewegung begann mit der Türkisierungspolitik in allen Lebensbereichen schon vor dem Lausanner Vertrag. Mustafa Kemal beschwerte sich bereits November 1919: „Eine so wichtige Direktion wie die der Personalabteilung ist einem Armenier anvertraut.“[13] ist. Im Juni 1923 wurden Beamte, die keine Türken bzw. Muslime waren, entlassen.

In den ersten Jahren der Republik Türkei wurde das Recht auf Freizügigkeit der nicht muslimischen Minderheiten stark beschränkt. Januar 1924 wurde per Gesetz als Voraussetzung für die Ausübung des Apothekerberufes „Türke sein“ festgelegt. Mit dem März 1924 beschlossenen Gesetz „Tevhid-i Tedrisat“ wurde unter anderem die Restaurierung, Erweiterung oder Errichtung neuer Schulen eingeschränkt. Im April 1924 folgte das Berufsverbot per Gesetz für 75% der armenischen (auch jüdische und griechische Anwälte waren betroffen) Anwälte. März 1926 wurde „Türke sein“ gesetzliche Voraussetzung um den Beamtenstatus zu erhalten. Im Jahr 1925 wurden die Gemeinden, die Institutionen und die Stiftungen der jüdischen, armenischen, griechischen Minderheiten unter Druck gesetzt und gezwungen, auf den Artikel42 des Lausanner Abkommens zu verzichten. Obwohl der erzwungene Verzicht der Minderheiten sich nur auf diesen einen Artikel bezog, wurde dieser Vorgang vom türkischen Staat als Verzicht auf den kompletten „Schutz der Minderheiten“ propagiert.

April 1926 wurde per Erlass das Türkische vorgeschriebene Staatssprache bei wirtschaftlichem Schriftverkehr. Wer an den entsprechenden Stellen der türkischen Schrift nicht mächtig war, verlor seinen Arbeitsplatz. Januar 1928 wurden die nationalen Minderheiten mit der Kampagne „Sprich Türkisch“ gezwungen, nur noch türkisch zu sprechen. Menschen, die der türkischen Sprache nicht mächtig waren, wurden bedroht, geschlagen und auf andere Weise gequält. April 1928 wurde, wie vier Jahre zuvor für Anwälte, per Gesetz vorgeschrieben, dass nur „Türken“ den Arztberuf ausüben dürfen. Das kam einem Berufsverbot für armenische Ärzte gleich!

Alle diese Repressalien sowie sozialen, ökonomischen, nationalen, religiösen Ausgrenzungen waren begründet in der rassistischen, türkisch-chauvinistischen, kemalistischen Ideologie. Diese brachte Justizminister M. E. Bozkurt beispielhaft zynisch-faschistisch auf den Punkt: „Die die keine echten Türken sind, haben im Vaterland der Türken ein Recht und das ist, Diener zu sein, Sklave zu sein.“ [14] Und diese Politik wurde immer weiter ausgebaut: Per Gesetz mussten Juni 1932 Menschen, die als „Fremde” bezeichnet wurden, innerhalb von sechs Monaten ihren Arbeitsplatz verlassen. Juni 1932 folgte das gesetzliche Verbot für „Fremde”, bestimmte Berufe auszuführen. (Dies traf in erster Linie griechische Menschen, aber auch andere Minderheiten).

Am 14.Juni 1934 wurde ein „Ansiedelungsgesetz” (İskan Kanunu) verabschiedet. Dieses war vor allem gegen KurdInnen, aber auch ArmenierInnen und GriechInnen gerichtet. Zehntausende Menschen wurden Opfer der nun folgenden Zwangsumsiedlung. Die Zwangsumsiedlung wurde 1938 und 1939 verstärkt gegen nicht muslimische Minderheiten angeordnet, mit der Begründung sie würden „im kommenden Krieg die Nationale Sicherheit bedrohen”. Tausende ArmenierInnen wurden in die Großstädte, hauptsächlich nach Istanbul deportiert.

Ab Januar 1935 wurde die armenische Bevölkerung mit dem „Nachnamensänderungs-Gesetz” gezwungen ihre Namen zu ändern und zu „türkisieren“. Damit wurden die in armenischen Nachnamen häufigen Endungen wie „ian, yan” verboten.

Im Jahr 1955 wurde in der Nacht vom 6. auf den 7.September 1955 in Istanbul, ein von Staatskräften geheim organisierter Pogrom mit Plünderung und Angriffen gestartet. In der staatlich gleichgeschalteten Presse wurde die Nachricht lanciert, gegen das Geburtshaus Atatürks in Thessaloniki sei ein Bombenattentat verübt worden. Eine Stunde später begann zeitgleich an vielen Orten in Istanbul die systematische Plünderung vor allem griechischer, aber auch armenischer und jüdischer Geschäftshäuser. In Einrichtungen wie Kirchen, Schulen und in Privathäuser wurde eingebrochen. Hunderte Menschen wurden krankenhausreif geprügelt und 200Frauen vergewaltigt. Die Zahl der Ermordeten wird zwischen zwei und 17 angegeben. Ein staatlicher Pogrom! An diesen beiden Tagen wurden 4340 Geschäfte sowie 38Kirchen vollständig zerstört. 35Kirchen geplündert und beschädigt. Vier armenische und sämtliche griechischen Friedhöfe geschändet. 44Schulen – darunter acht armenische – und 2640 griechische Häuser überfallen und verwüstet.

Diese Barbarei wurde vom damaligen Innenminister und den Militärkommandeuren als „Nationale Aufregung und eine hervorragende Organisierung“ bezeichnet. Die Täter versuchten die „Kommunisten“ als Verantwortliche für die Pogrome hinzustellen und verhafteten als ersten Aziz Nesin (Autor, Satiriker, Kommunist) und 44 seiner Genossen. Eine Folge der grausamen Übergriffe war, dass Zehntausende Griechen und Armenier die Flucht ergriffen und auswanderten. Diese Fluchtwelle hielt mehrere Jahre an.

Allein diese stark gekürzte Chronologie ist Beweis dafür, welche Politik in der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk betrieben wurde. Die rassistische Türkisierungspolitik begnügte sich nicht damit, dass die armenische Nation in Westarmenien vernichtet worden war, sondern versuchte auch alle Spuren und das Leben der armenischen Nation in der Türkei auszulöschen. Ende der fünfziger Jahre des 20.Jahrhundert wurden sämtliche Namen von Städten, Dörfern und Siedlungen im historischen Westarmenien fast vollständig geändert und türkisiert. Laut Angaben von 1914, gab es im Osmanischen Reich 2538 Kirchen, 451 Kloster und 2000 armenische Schulen. Im Schuljahr 1924/1925 existierten noch 138Schulen von Minderheiten, in 2011/2012 nur noch 22. Davon sind 16armenische Schulen. Der größte Teil der Kirchen, Klöster, Kapellen, Gedenksteine (Kreuzsteine) und andere Kulturdenkmäler wurden gezielt zerstört. Einigermaßen intakte Gebäude wurden in Moscheen, Ställe, Lagerräume, Koranschulen u.ä. umgewandelt und so von den Zerstörern für ihre eigenen Zwecke benutzt.

Diese Repressionen und Restriktionen führten zur Auswanderung der wenigen noch überlebenden ArmenierInnen. Laut Angaben des Armenischen Patriarchats leben aktuell 2015 ca. 70000 ArmenierInnen in der Türkei. Davon sind ca. 30000 ArmenierInnen aus der armenischen Republik und haben keine türkische Staatsbürgerschaft. Fazit: Vor hundert Jahren umfasste die armenische Nation im Osmanischen Reich mehr als zwei Millionen Menschen. 1919 lebten in den Grenzen der Türkei ca. 280000 und 2015 sind es nur noch ca. 40000 ArmenierInnen, die über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen.

 Kemalistische Republik und Völkermordtäter von 1915

Während die Herrschenden der Republik Türkei ihre Vernichtungspolitik gegenüber dem armenischen Volk in verschiedener Weise weiterführten, wurden die Völkermordtäter geehrt und belohnt. Von der „Türkischen Nationalen Großversammlung” wurde am 14.Oktober 1922 Kemal Bey zum „Nationalen Gefallenen” erklärt. Seiner Familie wurde gleichzeitig eine Rente zugesprochen. Während des Völkermordes war Kemal Bey Landrat von Boğazlıyan. Er wurde in den „Istanbuler Prozessen” aufgrund seiner Mordtaten zum Tode verurteilt und hingerichtet.

April 1924 wurde ein Gesetz erlassen, nach dem viele Angehörige von Verantwortlichen für den Völkermord eine Rente erhielten. Durch Regierungsbeschluss wurden im Mai 1926 den Familien der Hauptverantwortlichen des Völkermords Besitzurkunden für von Armeniern geraubte Immobilien, damals im Wert von 20000 türkischen Lira, ausgehändigt.

„Der Staat nahm sich der Täter auch nach ihrem Tode an. Sowohl jene, die von armenischen Rächern getötet, als auch diejenigen, die in Istanbul hingerichtet worden waren, galten als ‚Gefallene’. Ihre Familien erhielten durch Gesetz vom 31. Mai 1926 Besitzurkunden für Immobilien, die ‚von Armeniern zurückgelassen’ worden waren.“[15]

Am 25.Februar 1943 wurde der Leichnam von Talat Pascha, organisiert vom Hitlerregime unter militärischen Ehrenbezeugungen von Berlin nach Istanbul überführt und am „Freiheits-Denkmal” (Abide-i Hürriyet) der jungtürkischen Revolution von 1908 beigesetzt. Am 4.August 1996 wurde auch der Leichnam von Enver Pascha, mit einem Staatsakt von Tadschikistan nach Istanbul überführt und ebenfalls am „Freiheits-Denkmal” beigesetzt. Enver wurde als „Held der Freiheit und des Sieges” gefeiert.

Während die verstorbenen Mörder so geehrt und belohnt wurden, wurden die noch lebenden Täter mit hohen, lukrativen Posten im Staatsapparat ausgestattet. Şükrü Kaya, der offiziell für die Deportationen zuständig war, hatte ab 1924 als Minister verschiedene Ressorts inne. Von 1927 bis 1938 amtierte er ununterbrochen als Innenminister. Gleichzeitig war er Generalsekretär der Republikanischen Volkspartei Atatürks – die damals einzig zugelassene Partei. Mustafa Abdülhalik (Renda) Gouverneur von Bitlis und Aleppo, er ließ unter anderem im Gebiet um Muş Tausende ArmenierInnen bei lebendigem Leib verbrennen. Er erhielt nacheinander den Posten als Finanz-, Erziehungs- und Verteidigungsminister und war auch Parlamentspräsident.

Der nach dem Ersten Weltkrieg wegen Beteiligung an den Deportationen gesuchte Celal Bayar, brachte es später bis zum Amt des dritten Staatspräsidenten der Republik Türkei … um nur einige zu nennen.

Auch die Haltung der Herrschenden der Republik Türkei gegenüber den Völkermordtätern beweist eindringlich, die Kontinuität zwischen der kemalistischen Türkei und dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ in der „armenischen Frage“. Was das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ mit dem Völkermord erreichen wollte, die vollständige Vernichtung der armenischen Nation, aber durch die Niederlage beim Ersten Weltkrieg nicht zu Ende führen konnte, versuchten die „neuen“ Machthaber der Republik Türkei mit anderen Mitteln und Wegen umzusetzen.

Diese Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden: weder durch die Entscheidungen türkischer Gerichte, einige der beschlagnahmten Liegenschaften an ArmenierInnen zurück zu geben, noch durch das vom damaligen Ministerpräsidenten, heutigen Staatspräsidenten Erdoğan im April 2014 zum ersten Mal ausgesprochene „Beileid”. An der rassistisch-faschistischen Grundhaltung der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk änderte sich dadurch nichts Wesentliches. Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit Bolşevik Partizan festgehalten haben:

„Ein ganz kleiner, positiver Schritt, der aber angesichts zum Beispiel der aktuellen Bildungspolitik, nur auf der Ebene von Lippenbekenntnissen bleibt.

Die neuen Schulbücher 2014/2015 tischen wieder alle bisherigen Verleumdungen, Lügen und Geschichtsfälschungen über den Völkermord auf. Die SchülerInnen ‚lernen’, dass das Wort ‚Armenier’ ein Synonym für ‚Feind’ und ‚Verräter’ ist. Was fühlen armenische SchülerInnen, deren Vorfahren hingemetzelt wurden, bei dieser Geschichtsfälschung? Welchen Anfeindungen sind sie ausgesetzt? Und das angesichts des 100-jährigen Gedenktages an den Völkermord!

Bis auf den heutigen Tag ist die armenische Gemeinschaft/Nationalität in Nordkurdistan-Türkei Rassismus, türkischem Chauvinismus, Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt.“ (TA, Nr.68, S.71)

 August 2015

Völkermord an den Armeniern: Debatte über demokratische Forderungen

Anmerkung eines TA-Lesers sowie Kritiken der IA.RKP, Mai 2015

Antwort von Bolşevik Partizan und Trotz alledem

Eine Anmerkung zum Flugblatt

„100 Jahre Völkermord – Pein und Leid des armenischen Volkes“

– Ich schicke voraus, dass das Flugblatt der BP/TA m.E. in der Darstellung der Geschichte und in der politischen Stoßrichtung völlig richtig ist. Insbesondere für jeden Armenier und Angehörigen jeder anderen nationalen Minderheit in der Türkei, aber auch für jeden Demokraten und Antichauvinisten auf der Welt ist es ein erhebendes und befreiendes Erlebnis, einen solchen Text von türkischer Seite in die Hand zu kriegen.

Ich selbst, als Kommunist, bin davon natürlich nicht überrascht, sondern setze eine solche Haltung bei einem türkischen Kommunisten als selbstverständlich voraus - aber ich bin mit einem halben Dutzend Armeniern/Armenierinnen (aus der Türkei stammend, einige noch in Istanbul lebend) befreundet, lauter mehr oder weniger fortschrittliche Menschen, zumindest eine davon mit der Sache des revolutionären Kommunismus sympathisierend.

Bei einem Treffen haben wir unlängst auch das Flugblatt diskutiert - und jetzt glauben mir alle wieder ein bisschen mehr, dass der weitere Gang der Geschichte wohl doch der Marx‘schen Bemerkung (damals zur Unterdrückung Irlands durch England) folgen wird, dass „ein Volk, das andere unterdrückt, selbst nicht frei sein kann“, also dass sich früher oder später in der Türkei eine mächtige revolutionär-demokratische antichauvinistische Strömung entwickeln wird - und muss, wenn sich die türkische Arbeiterklasse befreien will.

Aus dieser Diskussion nehme ich aber auch folgende Schwachpunkte bei drei der acht „Forderungen an den Staat der Türkischen Republik“ mit, Punkte, die von „meinen“ Armeniern/Armenierinnen durchwegs bestätigt wurden:

„Recht auf Selbstbestimmung und auf Lostrennung für Westarmenien“: Meine Freunde (einige stammen in der Großelterngeneration aus Istanbul, einige aus Kayseri) bestätigten mir, es gäbe im Ostteil der Türkei keine halbwegs geschlossenen armenischen Siedlungsgebiete mehr, sondern die früher dort lebenden Armenier lebten entweder (mehrheitlich) im Ausland oder in Istanbul und anderen Städten in Westanatolien. Ein Recht auf territoriale Lostrennung eines armenischen Siedlungsgebietes entbehrt unter solchen Umständen der Grundlage und das Recht auf Selbstbestimmung bezieht sich unter diesen Bedingungen „nur“ auf die armenische Identität (siehe dazu einige der anderen Forderungen). Mir fällt dazu auch das Beispiel der sowjetischen Politik gegenüber den Roma ein („Nation ohne Territorium“).

Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:

Die Forderung des „Rechts auf Selbstbestimmung und Lostrennung für Westarmenien“ ist verbunden mit dem Recht auf Rückkehr nach Westarmenien. Wir sind uns bewusst, dass heute „kein halbwegs geschlossenes armenisches Siedlungsgebiet“ in Westarmenien (für Kurden ist Westarmenien ein Teil Nordkurdistans; für den türkischen Staat Ostanatolien) existiert.

Die Frage ist: Warum? Weil die ursprüngliche armenische Bevölkerung durch den Völkermord aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und vernichtet wurde. Es ist eine demokratische Forderung, die die KommunistInnen aufstellen müssen, damit die Nachfahren der ermordeten, vertriebenen und überlebenden ArmenierInnen das Recht haben in ihr Land zurückzukehren. Würden die ArmenierInnen aus der Diaspora und der armenischen Republik dieses Recht in Anspruch nehmen, wäre es durchaus möglich, dass in Westarmenien ein geschlossenes armenisches Siedlungsgebiet wieder entsteht.

Das bedeutet keineswegs, dass damit die Vertreibung der aktuell dort lebenden kurdischen bzw. türkischen Bevölkerung verbunden wäre. Dieses Gebiet, bzw. die armenische Nation hätte dann das Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich Lostrennung vom türkischen Staat. Wenn von Völkermord geredet wird, ohne das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht zu fordern, ist es unserer Meinung nach eine halbherzige Anerkennung des Völkermords. Viele ArmenierInnen in der Diaspora, in unzählige Länder der Welt verstreut, wollen das Recht haben, die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen und zurückzukehren.

Wir sind auf Veranstaltungen und Aktionen zum 100.Gedenkjahr in Armenien, Türkei und Deutschland vielen armenischen Menschen begegnet und haben zusammen diskutiert. Sie waren bewegt und hoffnungsfroh, dass eine politische Organisation aus Nordkurdistan/Türkei das Rückkehrrecht und Entschädigungen einfordert. Das sei „der wirklich konkrete, menschliche, demokratische Schritt zur Aussöhnung der Völker“.

Die marxistisch-leninistische Lösung der nationalen Frage erfordert, ausgehend von den grundlegenden Prinzipien immer auch eine ganz konkrete Herangehensweise. Dafür existieren in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zahlreiche historische Beispiele. Eines davon ist die Errichtung des nationalen „Jüdischen Autonomen Gebiet“ (JAG), bekannt unter dem Namen seiner Hauptstadt „Briobidshan“, 1934 in der Sowjetunion an der chinesisch-sowjetischen Grenze. Z.B. die praktische Umsetzung des Rechts auf Lostrennung für die finnische Nation durch den jungen Sowjetstaat.

Die konkreten historischen Entwicklungen in der armenischen Frage, wie die 100 jährige Leugnung des Genozids und die kemalistisch-faschistische Staatsdoktrin, sowie der vorherrschende türkische Chauvinismus erfordern die aufgeführten demokratischen Forderungen in Nordkurdistan/Türkei (wie auch in gewisser Weise in Deutschland) aufzustellen. Nur dadurch wird konkret ein demokratisches Bewusstsein in der Konfrontation mit der Völkermordgeschichte des osmanischen Staates innerhalb der Werktätigen geschaffen.

 Leserbrief:

„Rückgabe geraubter Häuser, Grund und Bodens usw.“ – Restitution an wen? Wenn keiner mehr dort lebt, läuft das eventuell auf etwas Ähnliches (auf etwas Ähnliches, nicht auf dasselbe!) hinaus wie deutsche und österreichische Umtriebe seit 1990 bezüglich früheren Eigentums in Tschechien etc. Statt Restitution an Menschen, die tatsächlich zurücksiedeln möchten, dreht es sich hier um pure niederträchtige Geldgier und Spekulation von „Jungvertriebenen“, vermischt mit revanchistischem Unrat. So etwas bekämpft nicht den Chauvinismus, sondern heizt ihn sogar an.

Antwort:

Wir meinen, die „deutschen und österreichischen Umtriebe“ (wenn du damit die Forderungen der „vertriebenen“ Sudetendeutschen etc. meinst) können nicht mit der Frage der Entschädigung der armenischen Nachfahren des Völkermordes gleichgesetzt werden. (Und schon gleich gar nicht mit „niederträchtiger Geldgier“.) Alle Umsiedlungen im Rahmen des Potsdamer Abkommens waren gerecht und Ausdruck der antifaschistischen Politik der sozialistischen Sowjetunion.

Die Frage stellt sich für die Nachfahren der ArmenierInnen ganz anders. Wenn vor allem türkische und kurdische KommunistInnen die Rückgabe geraubter Häuser, Grund und Bodens, Restitutionen fordern, so hat das nur damit zu tun, dass dieses historische Unrecht, das zu Beginn der Entwicklung des Imperialismus und der Nationenbildung begangen wurde, noch immer ein Hindernis in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Völker ist. Darum ist es unsere Aufgabe den barbarischen Genozid ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und praktische Schritte zu einer Versöhnung der Völker zu gehen.

Die Frage an wen Restitutionen, Entschädigungen zu geben sind, ist ziemlich eindeutig zu beantworten: An die Nachfahren der beraubten ArmenierInnen und wenn keine mehr ausfindig zu machen sind, dann entweder an armenische Stiftungen/Organisationen in der Türkei, in Armenien oder in der Diaspora. Ein Großteil der „ursprünglichen Akkumulation“ der heutigen türkischen Bourgeoisie (im Übrigen auch der kurdischen) beruht auf dem Raub armenischer Güter und Kapitals. Sogar der Grund und Boden auf dem das monumentale Atatürk Mausoleum sowie der Präsidenten-Herrschaftspalast Erdoğans gebaut wurden, sind armenisches Eigentum! Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, diese geschichtliche Tatsache ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und bereit zu sein diese Konsequenzen zu tragen.

Leserbrief:

– „Entschädigungen an die Republik Armenien“ – an den heutigen Staat Armenien? Das russische Armenien war von dem Völkermord überhaupt nicht betroffen und spielte andererseits nach dem Zusammenbruch des Zarismus und des Osmanischen Reichs und vor der Erkämpfung einer armenischen Sowjetrepublik eine üble Rolle auf heutigem türkischem Territorium, d.h. die armenische Bourgeoisie frönte ihren expansionistischen Ambitionen. Die heute in Armenien an der Macht befindliche Bourgeoisklasse ist aber zweifellos der ideelle Nachfolger des damaligen reaktionären Armenien.

 Antwort:

Zunächst, zu sagen dass das „russische“ Armenien vom Völkermord überhaupt nicht betroffen war, ist falsch. Nach Ostarmenien sind während und direkt nach dem Völkermord ca. 300000 überlebende ArmenierInnen aus Westarmenien und dem osmanischen Reich geflohen. Das war eine große ‚Herausforderung‘ an den damaligen armenischen Staat. Nach dem 2. Weltkrieg migrierten nochmals 120000 ArmenierInnen, zum größten Teil aus der Diaspora, aber auch aus der Türkei in die Republik Armenien. Wir meinen, dass der heutige armenische Staat, die einzige staatliche Vertretung der armenischen Nation ist und als solche die Adresse der Restitutionen, wenn es keine Nachkommen von ermordeten Armeniern gibt. Auch wenn die armenische Bourgeoisie und der armenische Staat reaktionär sind, ist die Forderung nach Entschädigungen etc. richtig, demokratisch, da es sich um eine nationale Frage handelt.

 Leserbrief:

– Aber – wie gesagt – das sind m.E. in concreto unzutreffende Forderungen, sie ändern aber nichts an der politischen Substanz des Flugblatts.

 
Schlußbemerkung BP und TA: Wir danken Dir für die konstruktive Kritik und hoffen einige Fragen von unserer Sichtweise aus konkreter und klarer dargestellt zu haben, als es im Rahmen eines Flugblattes möglich ist.

 
Kritikschrift von IA.RKP Österreich

Liebe Genoss/innen! Wir haben euer Flugblatt, das wir insgesamt gut finden – mit einer kleinen Ergänzung zu Österreich – weiterverbreitet, unter anderem auf der Armenien-Demo am 24.04.2015 in Wien. Auf dieser Demo haben wir auch eine Rede gehalten, die sich in einigen Schwerpunkten von eurem Flugblatt unterscheidet. (vgl. auch: iarkp.wordpress.com)

Jetzt möchten wir euch aber einige Überlegungen und direkte Kritiken an eurem Flugblatt mitteilen und würden gern dazu eure Meinung bzw. Erklärungen erfahren. Ihr habt euch sicher ausführlicher als wir mit der sog. „Armenier-Frage“ beschäftigt, aber uns kommen einige Punkte seltsam oder unlogisch vor.

1. Es wird die Tatsache ausgeklammert, dass die Armenier/innen schon vor den Verfolgungen Anfang des 20.Jahrhunderts, also etwa um 1900, kein geschlossenes Siedlungsgebiet hatten, sondern in bestimmten Städten konzentriert waren – die weitgehend von kurdischen Dörfern und Landgebieten umschlossen waren. Unseres Wissens ist erst in der Sowjetunion ein Land entstanden/gebildet worden, wo Armenier/innen dann durch Ansiedlungen die Mehrheitsnation gebildet haben. Soweit wir wissen, war das sogenannte „russische Armenien“ bis nach der Oktoberrevolution mehrheitlich von anderen Nationalitäten besiedelt. Die Armenische Republik 1918 war hauptsächlich eine proimperialistische, national-chauvinistische Staatengründung, die zu Recht von den Rotgardisten zerschlagen wurde.

Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:

Die armenische Bevölkerung bildete in vielen Städten Westarmeniens entweder die Mehrheit oder aber sie war eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit. Im osmanischen Staat existierte ein Gouvernement Armenistan, „Ermenistan Eyaleti“. Dieses umfasste u.a. die heutigen Städte Bitlis mit 196000 armenischer EinwohnerInnen; Van 192200; Erzurum 203400, und Diyarbakır 81700. (Raymond H. Kevorkian, „Die Armenier im Osmanischen Reich vor 1915“, türkisch). Die bürgerlich-konterrevolutionäre, armenische Republik wurde zwar 1920 im Bürgerkrieg zwischen der jungen Sowjetrepublik und der imperialistischen Entente zerschlagen. Aber 1922 gründeten die Bolschewiki die Transkaukasische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik (SSR), wobei Armenien ein Teilstaat dieser föderativen SSR war. Diese Transkaukasische Föderative SSR war einer der vier Gründerstaaten der Union der Sozialistischen Sowjet Republiken (UdSSR) 1922. 1936 wurde die Transkaukasische Föderative SSR aufgelöst und drei neue sowjetische Unionsrepubliken gebildet, die Grusinische, die Armenische und die Aserbeidschanische.[16]

 Kritikschrift:

2. Weder historisch noch aktuell hat ein „Recht auf Lostrennung für Westarmenien“ eine fortschrittliche Stoßrichtung. Welche Teile des heutigen türkischen Staats habt ihr im Sinn, wenn ihr dieses Recht fordert?

Wollt ihr damit ausdrücken, dass die Armenier/innen z.B. aus Istanbul (und Frankreich usw.) das Recht haben sollen, irgendwo im Osten des heutigen Staats Türkei (nahe der Grenze zu Armenien oder Iran) eine neues Heimatland zu gründen?

Antwort:

Wir sind der Meinung über die Geschicke der Nationen, haben nur die Nationen selbst das Recht zu entscheiden. Wir können und müssen als KommunistInnen natürlich unsere politische Meinung darüber bekunden, wie dieses Selbstbestimmungsrecht im Interesse des Proletariats verwendet werden sollte. Wir können aber nicht an Stelle der unterdrückten Nation entscheiden. Ein/e Kommunist/in der einer herrschenden Nation angehört und der das Selbstbestimmungsrecht, als Recht auf staatliche Lostrennung, nicht anerkennt und verteidigt ist in diesem Punkt kein/e Kommunist/in.

Wer in Nordkurdistan/Türkei den Völkermord an der unterdrückten Nation, den Armeniern leugnet und der das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht der Armenier nicht verteidigt, gehört zur Kategorie der Chauvinisten.

KommunistInnen vor allem in Nordkurdistan/Türkei, aber auch international sollten anerkennen, dass im Genozid an den Armeniern eine ungeheuerliche „geschichtliche Ungerechtigkeit“ verübt wurde, die auch heute im Klassenkampf in Nordkurdistan/Türkei eine große Rolle spielt. Armenische Überlebende des Genozids, bzw. heute vor allem ihre Nachkommen überall auf der Welt verstreut, fordern zu Recht Anerkennung des Völkermordes und Gerechtigkeit, die das Rückkehrrecht einschließt. Am 100.Gedenktag war einer der Hauptslogan: „Ich erinnere und ich fordere“. Dies sollte von allen KommunistInnen unterstützt werden, vor allem aber von den türkischen und kurdischen KommunistInnen.

Ja, wir sind der Meinung, es ist das Recht der Armenierinnen in ihr „Heimat“land zurückzukehren. Dieses ist Westarmenien, das Verwaltungsgebiet in den Grenzen des osmanischen Reiches.

Kritikschrift:

3. Wir halten es für falsch, dass „Entschädigungen an die Republik Armenien“ bezahlt werden sollen. Wieso eigentlich? Auch dazu fällt uns als „Vorbild“ und Parallele nur die reaktionäre Forderung ein, dass für die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in Europa der Staat Israel Geld erhalten soll.

 Antwort:

Die Frage, die ihr stellt ist komplex.

• Der Vergleich Israel und Armenien trifft in einer Hinsicht nicht zu. Sehr verkürzt: Israel wurde als Staat gegründet auf der Vertreibung und Enteignung der palästinensischen EinwohnerInnen des Staatsgebietes, das Israel sich einverleibte. Aufgrund der besonderen Situation durch die Shoah und der Einwanderung vieler jüdischer Flüchtlinge entwickelte sich in Palästina die jüdische Nation, deren Existenz in diesem Gebiet die sozialistische Sowjet­union und die kommunistische Weltbewegung 1947 anerkannten. Sie waren für einen demokratischen Staat Palästina in dem die arabische und jüdische Nation zusammenleben sollten. Als klar wurde, dass diese Lösung nicht durchsetzbar war, unterstützte die sozialistische Sowjetunion in der UN die Zweistaaten-Lösung und den Teilungsplan für Palästina 1948. Diese Situation kann mit der des armenischen Staates überhaupt nicht verglichen werden.

• Die Frage der „Entschädigungen/Wiedergutmachung“ an den Staat Israel durch Deutschland. Wir meinen, dass wenn ein imperialistischer Staat wie Deutschland einen Völkermord/Genozid/Shoah begeht und die deutschen Werktätigen in ihrer Mehrheit diesen Staat dabei aktiv unterstützt haben und mitschuldig sind, ist es eine Frage der Demokratie, dass „Entschädigungsleistungen“ gefordert und gegeben werden.

Das betrifft zum Beispiel auch Forderungen der indigenen Völker gegen den US- und kanadischen Imperialismus etc.

Die deutschen Entschädigungen an den israelischen Staat und die Jewish Claims Conference wurden im Londoner Abkommen 1956 festgelegt. Sie waren bestimmt – und begründet mit dem Leid der jüdischen Flüchtlinge und Überlebenden – „für Unterstützung, Eingliederung und Ansiedlung jüdischer Opfer“, sowie als Ausgleich für die geraubten Vermögenswerte der europäischen Juden durch die Nazis. Nur 11% der deutschen Bevölkerung waren für dieses Abkommen, alle deutsch nationalen Parteien, weite Teile der CDS/CSU, Strauß etc. lehnten es ab.

Die Entschädigungen des deutschen Staates haben natürlich einen Staat unterstützt, der die palästinensische Bevölkerung vertrieb, gegen sie Pogrome und Kriege führte. Die Entschädigungen wurden nicht nur in Geld sondern auch in kostenlosen Waffenlieferungen gewährt.

Was wäre die Aufgabe der KommunistInnen in Deutschland gewesen? Sollten sie die Losung aufstellen keine Entschädigungen an einen reaktionären jüdischen Staat, der das palästinensische Volk aus seinem Land vertreibt? Das wäre unserer Meinung nach Wasser auf die Mühlen aller Antisemiten. Leider kennen wir die Position der KPD nicht. Wir denken, KommunistInnen hätten unbedingt für individuelle finanzielle Unterstützung aller jüdischen Opfer und ihrer Nachkommen eintreten müssen. Die Rolle des Staates Israel gegenüber dem palästinensischen Volk, die Deutschland auch unterstützte, hätte gleichzeitig angeklagt und verurteilt werden müssen.

• Nun zur Armenischen Republik, die natürlich ein reaktionärer kapitalistischer Staat ist. Wir halten es für die Entwicklung des sozialistischen und demokratischen Bewusstseins der Werktätigen in Nordkurdistan/Türkei und in der BRD absolut für notwendig, dass an beide Staaten Entschädigungsforderungen für die Nachkommen des Genozids bzw. für den armenischen Staat gestellt werden. Die 100 jährige Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, die konstituierend für die türkische Republik ist, kann nur so überwunden werden, dass die Herrschenden zur Rechenschaft gezogen werden, auch auf diesem Gebiet der finanziellen Entschädigung, ihre Schuld eingestehen müssen und die Völker ihre Mitschuld praktisch erkennen und dementsprechend politisch handeln.

 Kritikschrift:

4. Uns ist klar, dass verschiedene Restitutionsforderungen und Entschädigungen nur in demokratischen und gleichberechtigten Verhandlungen geklärt werden können – z.B. eine Forderung, dass der türkische Staat in Van und anderen Städten neugebaute Siedlungen für „rückkehrwillige“ Armenier/innen zur Verfügung stellen soll usw. Insgesamt sind aber einige eurer diesbezüglichen Forderungen, wie z.B. „Reparationszahlungen für alle beschlagnahmten Vermögenswerte“ so abstrakt, dass da jeder Reaktionär seine demagogische, zum Nationenhass aufstachelnde Forderung davon ableiten kann. Was denkt ihr, an wen und wofür eine Volksrepublik Türkei/Nordkurdistan „Entschädigungen“ zahlen soll – mehr als 4 Generationen danach!? Doch wohl nicht an eine reaktionäre Republik Armenien oder an armenische Kapitalisten, die Ersatz für den Verlust der Betriebe ihrer Urgroßväter einfordern!?

 Antwort:

Konkret können die Forderungen nur dann umfassend erhoben und geklärt werden, wenn erstmals prinzipiell der Völkermord als Völkermord anerkannt wird. Das gibt jedem Nachkommen der überlebenden ArmenierInnen die Möglichkeit persönliche Forderungen ihrer Familien vorzubringen und anzuklagen. Es existieren hinreichende Dokumente des osmanischen Staates, in den Händen der Überlebenden, in den Archiven der armenischen Republik, (in den noch nicht geöffneten Archiven in Jerusalem, in Boston und in der Türkei) in russischen, sowjetischen Archiven. Daraus können ziemlich genaue Entschädigungs­forderungen herauskristallisiert werden, vorausgesetzt der türkische Staat ist dazu bereit.

In 2011 hat die AKP-Regierung ein Gesetz erlassen, in dem die von der türkischen Republik in den 1920er und 1980er Jahren beschlagnahmten Vermögenswerte von Stiftungen, an diese zurückgegeben werden müssen. Das betraf sehr stark die armenischen Kirchengemeinden und Stiftungen, wie auch griechisch-orthodoxe etc. Der türkische Staat hat seitdem einige Besitztümer wie Grundstücke, Immobilien, Kirchen etc. tatsächlich rückübertragen.

Wir KommunistInnen sind weder Anhänger der armenischen Kirchen/Gemeinden noch des armenischen Staates. Aber wir sind für das demokratische Recht, der Gleichberechtigung aller Religionen und Nationen, Nationalitäten. Wir stellen uns gegen jeglichen Großmachtchauvinismus der herrschenden Nation und unterstützten in dieser Hinsicht, und nur in dieser die berechtigten Forderungen nach Entschädigungen.

Eine Volksrepublik Türkei, die nicht bereit dazu ist, das zu machen, was die KommunistInnen von der Bourgeoisie fordern, wäre keine Volksrepublik Türkei. Eine Volksrepublik wird nicht erkämpft werden, wenn die Völker Nordkurdistan/Türkei sich nicht auf Grundlage der Anerkennung der Barbarei an den unterdrückten Nationen versöhnen. Unsere Forderungen sind in diesem Sinne vor allem ein Versuch die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Völker an ihre Mitschuld zu erinnern, ein Aufruf sich der Geschichte und der Verantwortung zu stellen.

Uns der Geschichte stellen – Reise nach Jerewan

Lange haben wir diese Reise vorbereitet – Genoss­Innen von Yeni Dünya için Çağrı und wir, GenossInnen von Trotz alledem, Flugblätter und Transparent geschrieben, gestaltet und für die Übersetzung gesorgt. Jetzt kurz vor der Abreise macht sich Aufregung breit. Bald werden wir uns in Jerewan treffen und aktiv am 100.Jahrestag des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern teilnehmen.

Den Flughafen verlassen wir um ungefähr ein Uhr dreißig in Jerewan. Beinahe erstaunt bemerken wir, wie klar die Luft ist. Mit dem Taxi durch die nächtliche Stadt. Die Hauptstadt und mit ungefähr 1,2Millionen Einwohnern größte Stadt Armeniens begrüßt uns in Ruhe mit leeren Straßen. Ein wenig Erleichterung darüber, dass viele Schilder ihre Hinweise auch auf Englisch geben.

Vorbei an verschiedenen Werkstätten und den unumgänglichen Spuren der imperialistischen Weltordnung: Verkaufscenter und Filialen z.B. deutscher und amerikanischer Konzerne. Wir passieren die Destillerie Ararat, wo der berühmte gleichnamige armenische Cognac, eines der bekanntesten armenischen Exportgüter, hergestellt wird.

Unser Hostel liegt am Rand der Innenstadt im fünften Stock eines typischen Stadthauses. Die „24-Stunden Rezeption“ ist ein junger Mann, Mitglied der kleinen und überaus sympathischen Belegschaft unserer, wie sich während unseres Aufenthalts jeden Tag mehr herausstellt, Glücks-Wahl-Unterkunft.

Aufgeregt, gespannt auf die kommenden Tage und müde von einer Reise von „West“ nach „Ost“ fallen wir ins Bett.

Der erste Morgen in Jerewan ist sonnig, der Blick aus unserem Fenster geht über eine Hinterhoflandschaft und landet auf einem der schneebedeckten Gipfel des Ararat.

Die Stadt

Viele Gebäude sind schön: Jugendstil, alte armenische Holzhäuser mit filigraner Holzschnitzerei an Fenstern und Balkonen. Groß angelegte Wohnsiedlungen – sozialistische Architektur, kaum Hochhäuser – aber auch Armenviertel mit Wellblechhütten, Slums. Der Zugang zu den Hinterhöfen ist fast immer bunt bemalt. Es gibt offensichtliche Armut und Wohnungslosigkeit. Ein Paar lebt auf einer Bank, sie liest unter ihrem zum Sonnenschutz aufgespannten Regenschirm – er döst neben der gemeinsamen Habe aus ein paar Pappkartons und einigen gefüllten Plastiktüten.

Um die Innenstadt herum ist ein grüner Gürtel angelegt. Ein breiter Park zieht sich von Süden nach Norden. Immer wieder Denkmäler armenischer Berühmtheiten aus Kultur oder Wissenschaft und Brunnen: Eine Vielzahl verschiedener Wasserspielanlagen. Doch kaum eine ist in Betrieb: Im südlichen Teil verfällt das meiste. Bröselt der Anstrich. Holzbänke rotten und Springbrunnen rosten vor sich hin. Die Bauart, die Anlage des Parks weist deutlich auf die sozialistische Zeit Armeniens. Der sichtbare (absichtliche?) Verfall wirkt symbolisch und macht ein wenig traurig. Vor allem, als wir feststellen, dass im nördlichen Teil des Parks, ganze Bereiche privatisiert werden: Cafés und Restaurants nehmen Raum, wo bisher das konsumfreie Platznehmen unter Bäumen oder Sonnendächern jederzeit möglich war. In einem schlichten Pavillon spielen ältere Männer Tavla und Karten.

In der gesamten Innenstadt gibt es immer wieder großflächige Wasseranlagen – An Trinkwasserbrunnen löschen Passanten ihren Durst.

Ein besonderer Ort ist das Bauwerk, das „Die Kaskaden“ genannt wird: Aus dem Park heraus, zieht sich eine kleine Anlage mit geometrischer Bepflanzung und modernen Skulpturen hin zu einem imposanten Bau, der hauptsächlich aus einer breiten Treppenanlage besteht.

Wir bewundern in der Parkanlage unter anderem eine überdimensionale Teekanne aus dickem Schnörkeldraht und bestaunen eine bronzene runde Schönheit, bis wir vor den 572 Treppenstufen aus hellem Kalktuff stehen. Rechts und links gehen immer wieder Wege in kleine von Strauchhecken gesäumte Terrassen ab. In der Mitte der breiten Treppe pausieren wir auf großen Plattformen. Wieder Skulpturen und Reliefs: Eiserne Eidechsen laufen die Wände entlang, Chromglänzende Athleten sind in Sportübungen auf dem obersten Plateau festgehalten.

Am Ende der Treppe oben angekommen, genießen wir den Blick über Jerewan und in der Ferne: Ararat – wunderschön! Erst beim Abstieg bemerken wir, dass es noch ein Innenleben dieses seltsamen Baus gibt. Rolltreppen! Eine Reihe führt hinauf, die andere abwärts und seitlich davon Werke moderner Kunst. Wir sind im „Cafesjian“, Zentrum für moderne Kunst. Kostenfrei und überraschend.

Das ehemalige Hotel Armenia am Platz der Republik ist Teil einer Hotelkette geworden. Nach wie vor treffen sich in den Apriltagen dort tagsüber die aus der Diaspora anreisenden Armenier. Auch uns zieht es täglich in das Café auf der Terrasse. Wir beobachten die Menschen und tatsächlich treffen wir einen Freund aus Deutschland, der uns wertvolle Hinweise auf den Ablauf der kommenden Tage geben konnte. Mit der Belegschaft der Café-Bar diskutieren wir und werden, wegen unserer politischen Meinung, ab da sehr herzlich begrüßt. Nebenbei scheint der armenische Mokka, „haigagan surtsch“ in diesem Café von Tag zu Tag besser zu schmecken.

Der Platz der Republik ist dieser Tage auch Zentrum vieler Aktivitäten für das Gedenken. Hunderte Jugendliche führen einen szenischen Tanz auf, in den Abendstunden kann ein Wasser-Licht-Klang-Spiel bewundert werden. Am 23. April tritt „System of a down“ „umsonst und draußen“ auf. Diese, offenbar sehr bekannte Rockband aus Kalifornien, deren Mitglieder allesamt armenischer Herkunft sind, fordert in harten Songs Anerkennung des Völkermords. Hunderttausende strömen auf den Platz, nachdem die Sicherheitskontrollen endlich die stundenlangen Sperrungen der Innenstadt nach und nach geöffnet hatten. Das Konzert wird von einer begeisterten Menge trotz strömenden Regens miterlebt.

Anmoruk

Anmoruk bedeutet „Vergissmeinnicht“. Das Anmoruk ist das Symbol der Kampagne zum Gedenken an den hundertsten Jahrestag des Völkermords. Das dunkle Zentrum der Blüte erinnert an die Schrecken des Völkermords. Ein helles Violett steht, so wurde uns gesagt, für die Idee der Ewigkeit, „die Seelen“ der Ermordeten. Zwölf gelbe Blütenstempel zeigen die zwölf Säulen des Mahnmals, die zwölf verlorenen Provinzen in Westarmenien – gleichzeitig gelb für das Sonnenlicht, das für alles Leben Hoffnung gibt. Die fünf Blütenblätter symbolisieren die fünf Kontinente, auf denen ArmenierInnen in der Diaspora leben. Ihr Violett steht für die Farbe der armenischen Kirche, die zugleich armenisches Selbstbewusstsein ausdrücken soll.

Das Anmoruk findet sich in Jerewan als Anstecker, Aufkleber, Plakat, auf Regenschirmen. Jeder Laden, jedes Lokal hat ein Anmoruk am Fenster. Kein Auto und kein LKW fahren ohne, und immer wieder hängen Fahnen und Transparente an Balkonen, Häusern oder quer über die Straße gespannt. Als wir ein Anmoruk – geknüpft in einen Teppich – in der Auslage eines Teppichladens fotografieren, werden wir von zwei älteren Damen angesprochen. Die Verständigung geht nur über Hände und Füße und zwei Brocken armenisch, bzw. fünf Brocken russisch. Zum Glück haben wir schon unsere Flugblätter in armenischer Sprache bei uns. Suzanna weint, als sie versteht, dass wir aus Anlass des hundertjährigen Gedenkens in Jerewan sind. Wir gehen fast zwanzig Minuten zusammen. Auch die beiden schimpfen auf die Sprachgrenzen. Nach dem herzlichen Abschied drehen wir uns immer wieder um. Sie winken noch, als wir sie schon fast nicht mehr sehen...

In ganz Armenien haben Schul- und Kindergartenkinder Anmoruks aus Papier oder Stoff gemalt, geschnitten, gefaltet, geklebt. Auf der Rückseite stehen Schule und Alter der Kinder sowie poetische Gedenkzeilen.Millionen dieser Vergissmeinnichts werden von Jugendlichen an Passanten verteilt, an den Gedenkstätten den Menschen an die Kleidung geheftet. Mit zum Teil leuchtend lila Blüten am Kragen wirken die traurigen und ernsten Menschen als feierten sie im Erinnern an die Ermordeten das Leben!

Memorial

Mahnmal und Museum für den Völkermord befinden sich auf der Anhöhe „Zizernakaberd“, deutsch „Schwalbenfestung“. Zu Fuß gehen wir durch den Wald der Erinnerung auch Gedächtnisallee genannt. Hier pflanzen Jahr für Jahr Menschen unterschiedlichster Herkunft nach und nach Bäume gegen das Vergessen. Vor uns liegt nun ein großer Platz, der rechts durch eine niedere Mauer als Absturzschutz begrenzt wird. Dort weit im Westen bleibt der Blick auf dem mächtigen Bergmassiv des Ararat liegen.

Die Bedeutung dieser Gipfel für das armenische Volk ist allgegenwärtig. Sehnsucht, Verlust, Abschied, Trauer. Die schneebedeckten Gipfel scheinen zum Greifen nah. Der Fluss Arax trennt Armenien von der Türkei. Weit dahinter beginnt der Aufstieg zum Ararat. Auch im Gedenken spielt er immer wieder eine Rolle: „Solange die Wahrheit nicht anerkannt ist, wird der Gipfel des Ararat mit Blut gefärbt sein.“

Unter dem Pflaster dieses Teil des Platzes ist das Museum eingerichtet. Weil es bis zum 25.April für „einfache“ Menschen geschlossen ist, werden wir erst nach dem Gedenktag die Ausstellung besuchen können. Doch bereits jetzt können wir an der Tür einer Museumsmitarbeiterin überreichen, was wir aus der Türkei und Deutschland mitgebracht hatten: Artikel und Erklärungen zum 100.Jahrestag des Völkermords und unsere Flugblätter in Armenisch, Deutsch, Englisch und Türkisch, die wir eigens für unsere Fahrt nach Jerewan vorbereitet hatten.

Wieder oben angekommen richten wir uns nach Westen, wo sich etwa zweihundert Meter entfernt das Mahnmal erhebt. Auf der linken Seite begrenzt den Platz eine etwa drei Meter hohe Mauer, die Namen der Städte und Dörfer, aus denen Armenierinnen und Armenier vertrieben und ermordet wurden eingemeißelt. Nach alten traditionellen Mustern gestaltete armenische Kreuzsteine und Grabplatten auf dem Rasen davor.

Das Mahnmal: Zwölf Säulen, Symbol für die zwölf Provinzen in Westarmenien, bilden ein Rund. Keine geraden aufgerichteten Säulen, eher schützend oder wie Stein gewordene Blütenblätter einer halb geschlossenen Blüte neigen sie sich als offene Kuppel über die Mitte, in der immerzu ein Feuer brennt.

Über schmale Treppen mit wenigen Stufen zwischen den Säulen kommen wir in den im Durchmesser ungefähr dreißig Meter großen Innenraum. Rund um das Feuer herum liegen im Abstand von ca. zwei Metern Blumen und werden immer wieder neue abgelegt. In den Tagen des Gedenkens wird dort ein kreisrunder rund zwei Meter hoher Wall aus Blumen entstehen. An der Außenseite der Säulen sind auf der Rückseite des Runds Gedenktafeln angebracht. An Menschen, die sich besonders für die Anerkennung des Völkermords bemüht hatten, z.B. Franz Werfel, Armin T.Wegener u.a.

Wenige Meter westlich des Säulenrunds ragt wie ein gespaltener Zahn ein 44 Meter hoher spitzer Obelisk auf. Von weitem ist die Spalte nicht bei jedem Licht zu erkennen. Doch von nahem zeigt sich, dass West und Ost durch nichts verbunden scheinen außer der Form, strebt doch jeder Teil zusammen mit dem anderen in den Himmel: Bild für den durch den Völkermord gezogenen tiefen Graben zwischen Ost- und Westarmenien, der dennoch die Einheit des armenischen Volks nicht auslöschen konnte.

Gespräche, Austausch, Gedanken

Viele junge ArmenierInnen sehen sich als Überlebende des Völkermords. Seht her, wir leben: „1915failed genocideIlive!“ (1915ein verfehlter Völkermord – ich lebe!) ist ein T-Shirt-Aufdruck, den wir oft sehen. Auch in der Plakatserie (siehe nächste Seite) kommt diese selbstbewusste trotzige Haltung zum Ausdruck.

1915 wurden über 1,5Millionen Menschen ermordet. 2015 sind wir, trotz alledem 10Millionen.

Auf unsere Frage, was der Völkermord für die Jugendlichen heute bedeutet, was sie für die Zukunft wollen, fällt vor allem eine Antwort immer wieder auf: „Wir wollen mit Jugendlichen aus der Türkei, aus Deutschland zusammen kommen – auf einer Art Konferenz wollen wir ohne Regierungsbeteiligung die Vergangenheit bearbeiten und uns für die Zukunft verständigen.“

Unsere jugendlichen Gastgeber im Hostel diskutieren jeden Tag unseres Aufenthalts mit uns, wir schließen einander ins Herz. Nur einige Gedanken und Meinungen, die wir austauschen konnten, finden hier Platz.

Im Gespräch wird klar, dass der Völkermord immer noch konkrete Auswirkungen hat: Armenien ist, vor allem nach Zusammenbruch des sozialimperialistischen „Ostblocks“, politisch sehr isoliert. Zwischen der Türkei und Aserbaidschan, Georgien und Iran gelegen, sind die ökonomischen Bedingungen katastrophal. Die Grenze zu Armenien ist von Seiten des türkischen Staates geschlossen. Armeniens Industrie wurde nach dem Niedergang des Sozialimperialismus immer schwächer, Arbeitsplätze gibt es in diesem Wirtschaftszweig nur wenige. Genaue Zahlen über Erwerbslosigkeit konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Das höchste Gut armenischer Jugendlicher scheint die Bildung zu sein. Viele studieren, die meisten sprechen ein nahezu perfektes Englisch und nehmen in Kauf, für einen guten Job auch auszuwandern. In Armenien leben nur knapp dreiMillionen Armenierinnen und Armenier.

Karina ist überzeugt davon, dass die Bildung, konkret, was z. B. türkische Kinder in den Schulen lernen, dafür verantwortlich ist, wie sie über Armenien und den Völkermord denken. Wir diskutieren staatliche Manipulation über die Medien und Schulbücher und dass die Herrschenden so dafür sorgen, dass die Werktätigen in Unwissenheit bleiben – Feinde der Aufklärung, Feinde des Fortschritts, Feinde der Völkerverständigung. Karina und Nazeli bringen ihre Achtung vor der Arbeit unserer GenossInnen zum Ausdruck, als sie erfahren, dass wir zum Teil schon mehr als zwanzig Jahre zu diesem Thema politisch arbeiten und in unzähligen Veranstaltungen und Artikeln die Wahrheit verbreiten. Internationale Völkerverständigung ist das Thema, was wir am häufigsten besprechen. Wie können wir das erreichen? Die beiden sind überzeugt davon, dass unsere Arbeit in Deutschland, Türkei/Nordkurdistan und jetzt in Jerewan – unser gemeinsamer Austausch in diesen Tagen – genau das ist, was unternommen, verbreitet und ausgedehnt werden muss.

Einer Gruppe von Schülern begegnen wir am Mahnmal, sie fragen, ob wir als Deutsche an den Völkermord glauben. Die Antwort: „Nein, ich glaube nicht daran, ich weiß, dass und wann und von wem der Genozid an den Armenierinnen und Armeniern – sowie anderen Volksgruppen im osmanischen Reich – verübt wurde. Ich weiß, wessen Interessen damit bedient wurden und wer die Verantwortlichen waren. Wir sind ArbeiterInnen aus den Ländern Deutschland und Türkei, aus denen die Täter kamen. Ein Teil der Generation unserer Urgroßväter hat eure Urgroßeltern ermordet. Wir sind hier, um der Opfer zu gedenken. Wir fordern von unseren Staatsführungen, den Völkermord anzuerkennen mit allen Konsequenzen. Wir fordern nicht nur die Anerkennung, wir fordern auch das Rückkehrrecht nach Westarmenien und proklamieren das Recht für Westarmenien sich mit Ostarmenien zu vereinen. Wir fordern das von der Türkei und Deutschland als Nachfolgestaaten des osmanischen Reichs und des deutschen Kaiserreichs. Wir arbeiten in Deutschland und in der Nordkurdistan/Türkei für die Aufklärung über die geschichtlichen Zusammenhänge und engagieren uns für die Verständigung der Völker.“

Voller Staunen reißen sie die Augen auf. Wir werden in den Arm genommen und geküsst. Ein Junge sagt, dass er fast nicht glauben kann, dass er solche Menschen wie uns hier trifft. In solch ähnlichen Situationen finden wir uns während unseres gesamten Aufenthalts immer wieder. Ob wir allein, in kleinen Grüppchen oder alle zusammen unterwegs sind. Die Menschen öffnen uns ihre Herzen, sobald wir unsere Haltung offen darlegen.

Die meisten, mit denen wir sprechen, stehen hinter der armenischen Regierung. Nur eine ältere sehr resolute Frau macht ihrem Ärger Luft: „Unser Präsident ist sehr schlecht. Er bestiehlt uns. Woher hat er denn dieMillionen?“

Der Präsident, Sarkisian, wird in Jerewan uns gegenüber vor allem wegen seiner deutlichen Absage an die Einladung zum Gedenken der Schlacht von Çanakkale/Gallipoli gelobt. Der türkische Staatspräsident Erdoğan hatte dazu ausgerechnet für den 24.April 2015 eingeladen!

In all unseren Jerewan-Diskussionen, auch über soziale Fragen, wie Wohnkosten, Lebensunterhalt, Erwerbslosigkeit, die Frauenfrage, Perspektiven, steht der Völkermord über allen anderen Themen. Erlebte Erkenntnis in unserer Gruppe: Ohne den notwendige Kampf für die Lösung der armenischen Frage als nationale Frage, kann der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch die armenische Bourgeoisie nicht erfolgreich geführt werden. Das heißt: Anerkennung des Völkermords mit allen Konsequenzen, Rückgabe von geraubtem armenischen Eigentum, Entschädigung für die Zerstörung armenischer Kulturgüter, Rückkehrrecht für Armenierinnen und Armenier nach Westarmenien, Recht auf Vereinigung von West- mit Ostarmenien inklusive Recht auf Lostrennung und nationale Selbstbestimmung.

Wir als KommunistInnen aus Deutschland und der Türkei/Nordkurdistan unterstützen mit unserer Arbeit die Klassensolidarität und praktizieren so den proletarischen Internationalismus!

Unsere Aktion

Vor unserem Aufbruch im Hostel ist Nazeli gerührt: „What you are doing, hundred of Armenians could not do.“ – „Was ihr tut, könnten hundert Armenier nicht tun.“ Sie ist davon überzeugt, dass vor allem unsere Herkunft aus Deutschland und Türkei/Nordkurdistan für alle Menschen, denen wir mit unserer Haltung begegnen, enorm wichtig ist. Hundert Armenier könnten die gleiche Haltung vertreten, unsere kleine Gruppe hat ihrer Meinung nach eine größere Wirkung.

Wir verstehen, wie wichtig es ist, dass sich für die Anerkennung des Völkermords mit allen Konsequenzen, die Nachfolgegenerationen der Werktätigen aus dem Land der Täter der Verantwortung, der Geschichte stellen.

Am 24.April ist der Himmel bedeckt. Das Taxi muss uns am Fuße des Bergs aussteigen lassen, weil die Hauptstraße für zivile Fahrzeuge gesperrt ist. Zu Fuß gehen wir, bepackt mit unserem Material, an der dreispurigen Straße entlang. Wir erfahren von den alle hundert Meter postierten Polizisten, dass die Straße bis mindestens zwölf Uhr gesperrt bleibt. Macht nichts, denken wir, solange wir nur auf die andere Seite kommen, wo der breite Fußweg beginnt, den ab Mittag die „einfachen“ Menschen begehen werden, um zum Mahnmal zu gelangen. Doch noch bevor wir überhaupt am höchsten Punkt der Straße sind, werden wir von zwei Zivis freundlich aber keine Widerrede duldend zum Umkehren aufgefordert. In einem Bushäuschen wartend, beobachten wir die Staatslimousinen von Armenien, Frankreich und Russland. Sarkisian, Hollande und Putin rasen keine zwanzig Meter vor uns den Berg hinauf... Die Zeremonie für die Offiziellen beginnt pünktlich – von unserem Platz aus können wir winzig klein die Menschen auf dem Mahnmal erkennen. Der nächsten größeren Gruppe armenischer Männer, die bergauf gehen, schließen wir uns an und werden unerwartet beim Schleppen unterstützt.

Wir kommen dort an, wo schon Hunderte warten, dass der Fußweg endlich geöffnet wird. Schilder mit dem Symbol für den 100.Gedenktag, Fotos ermordeter Verwandter, Plakate mit verschiedenen Aufschriften, Forderungen werden hoch gehalten. Bilder von Hrant Dink, der Herausgeber der in der Türkei erscheinenden armenischen Zeitung Agos wurde 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen. Armenische Fahnen. Aus allen Schichten, Menschen aller Altersgruppen: Veteranen der Roten Armee, Jugendliche, Familien, Gruppen aus verschiedenen Ländern – es kommen immer mehr Menschen auf den Platz vor der Polizeisperre. Junge StudentInnen verteilen die von Kindern hergestellten Anmoruks.

Ab dem Moment, als wir unser Transparent öffnen, erleben wir keinen Moment mehr ohne von Menschen angesprochen zu werden. Immer wieder wird der Text laut gelesen. Viele lassen sich vor und mit uns und dem Transparent fotografieren. Eine junge Studentin adoptiert uns. „Now I‘m your armenien daughter...“ – „Jetzt bin ich eure armenische Tochter.“ Kurze Zeit später gibt sie vor unserem Transparent einem armenischen Fernsehsender ein Interview.

Ihre Hinweise auf die Herkunft von Yeni Dünya için Çağrı und Trotz alledem können wir an ihrer Gestik ablesen, worüber sie sonst noch gesprochen hat? Soviel konnte sie sich noch erinnern, dass es um die Freundschaft der Völker ging und wie wichtig sie es findet, dass gerade Menschen aus der Türkei und Deutschland hier diese Aktion durchführen.

Insgesamt 4700 Flugblätter werden von den Menschen begeistert genommen und sofort gelesen. Viele versuchen mit uns darüber zu diskutieren, auch auf Armenisch. Kurze Gespräche, meist auf Englisch vertiefen unsere Wahrnehmung, dass diese Aktion an dieser Stelle an diesem Tag überaus richtig und wichtig ist. Dass am 24.April auch in Deutschland und in der Türkei Flugblätter zum 100.Jahrestag des Völkermords verteilt werden und Aktionen stattfinden, dass es dort Werktätige, DemokratInnen und KommunistInnen gibt, die nicht locker lassen werden, bis nicht nur die Regierungen, sondern auch die Völker der Opfer gedenken und die Konsequenzen ziehen, überrascht viele. Wir werden beglückwünscht und auch unterstützt.

Nachdem er das Flugblatt aufmerksam gelesen hatte, verteilt ein Arbeiter aus Jerewan über 1500 davon. Unsere „armenische Tochter“ und noch ein weiterer Arbeiter aus Aserbaidschan, verteilen mit uns. Eine Frau, überquert den Platz – Tränen in den Augen, um unsere Genossin, die das Transparent hält, auf das Gesicht zu küssen.

Kaum einer von uns kann sich erinnern, jemals eine solch emotionale Aktion erlebt zu haben. Nur ein Angriff zeigte, dass auch hier der Antikommunismus auf dem Posten ist. Von wem wir diese Blätter hätten, fragt ein Mitglied des Komitees für den Gedenktag, so stellte er sich vor, während er unsanft versuchte, die Flugblätter der Genossin zu entreißen. Dieser Tag sei zum Gedenken und nicht für die Propaganda der Kommunisten. Er will nichts hören von Völkerfreundschaft. Wir sind Kommunisten wurde ihm geantwortet, wieso wir das verstecken sollten. Er lässt erst von uns ab und entschuldigt sich bei der Genossin, nachdem sie ihn dazu gebracht hatte, das Transparent zu lesen. „Türkei leugnet, Deutschland verschweigt – Wir gedenken der Opfer des armenischen Volkes!“

Als der Regen stärker wird und wir nicht weiter verteilen können, reihen wir uns in den Zug ein. Tausende Regenschirme und mittendrin unser Transparent.

Auf dem Gipfel des Berges ziehen wir vorbei an der Figur einer flüchtenden Frau mit kleinem Kind – Erinnern und Fordern!

Im Inneren des Mahnmals, inmitten der zwölf Säulen vor dem Blumenwall spannen wir das Transparent und halten einige Minuten inne, bevor wir uns auf der Rückseite des Säulenrunds aufstellen.

Trotz anhaltendem Regen bleiben immer wieder Menschen bei uns stehen. Unser Transparent wird zum beliebten Fotohintergrund. Eine Studentengruppe aus Ankara macht auf diesem Wege Bekanntschaft mit der Zeitung Yeni Dünya için Çağrı.

Durchnässt und erfüllt von diesen Erfahrungen machen wir uns auf den Rückweg. Bus und Metro bewältigen wir dank der Unterstützung einer Armenierin aus dem Iran, die uns sicher durch das Gewirr armenischer Schilder und Ansagen leitet. In unserem Stammlokal wärmen wir uns. Erst jetzt bemerken wir, dass Schuhe, Socken, Jacken – alles klitschnass ist … Ja, wir waren sehr zufrieden und glücklich, an diesem Tag diese Aktion durchführen zu können. Eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn die Völker sich verstehen und einig sind, das bleibt. Viel Kraft und Motivation ziehen wir aus diesem Tag.

Ende oder Anfang?

Die vielen erfüllenden Begegnungen, die Erkenntnis über Wesen und Bedeutung der Nationalen Frage – das Wissen, dass wir eine wichtige und gute Aktion durchgeführt haben... bedeutende Momente. Von Jerewan nach Moskau trägt so gut wie jeder und jede Reisende das Anmoruk. Als wir in Moskau ins Flugzeug nach Frankfurt steigen, erkennen wir uns, die wir das Anmoruk tragen, dass wir aus Jerewan kommen. Die lächelnden Augen mancher Mitreisenden zeigen uns noch einmal, wie wichtig unsere Teilnahme war.

Es lebe die Völkerfreundschaft – Hoch die internationale Solidarität!

 GenossInnen von Trotz alledem! 

Gedenktag – Türkei und BRD zum Völkermord an den Armeniern:

Eindrücke von Aktionen – Demonstrationen

Istanbul

Über 4000 Menschen formieren sich am Abend des 24.April 2015 entschlossen zu einem lautstarken Demon­strationszug auf der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi Beyoğlu, die zum Taksim führt.

Das Leittransparent der armenischen Organisation Nor Zartonk,[17] die zu dieser Demonstration aufgerufen hat, lautet „1915 – 2015 Der Völkermord hält an!“ Auf Schildern von Nor Zartonk wird mit Fotos, Namen und der Unterschrift: „Wir sind hier“ an armenische Menschen erinnert, die im Völkermord umgebracht wurden. Vielfach tragen junge Menschen das Porträt von Sevag Şahin Balıkçı. Der armenische Jugendliche wurde am 24.April 2011 bei seinem Zwangs-Militärdienst von einem anderen Wehrpflichtigen in Batman angeblich „aus Versehen“ erschossen. Es war ein rassistischer Mord. Der Täter wurde vom Militärgericht freigesprochen.

Die aktuelle Titelseite der türkisch/armenische Wochenzeitung AGOS, von Hrant Dink gegründet, wird in die Höhe gehalten. Die überwiegende Mehrheit der DemonstrantInnen sind ArmenierInnen, nicht nur aus Istanbul und anderen Orten Nordkurdistan/Türkei, sondern auch, wie bei allen Gedenkveranstaltungen, aus der Diaspora. Frankreich, Australien, USA, Italien, Österreich, Argentinien, BRD, auch aus der Republik Armenien.

Von der türkischen und kurdischen Linken sind kaum Organisationen und Teilnehmerinnen dabei. Nur zwei Transparente sind zu sehen: Von Çağri (Aufruf für eine neue Welt): „1915 – 2015, 100Jahre sind genug! Zeit sich der Geschichte zu stellen!“ und von Yeni Demokrat Gençlik: „Im 100.Jahr des Völkermordes – Wir fordern Rechenschaft!“. Ansonsten Schilder von AKA-DER (Anatolischer Kultur- und Forschungsverein) und der Grup İsyan Ateşi. Wir laufen an einem Agit-Propstand der linken Gruppe EHP zur Mobilisierung für den 1.Mai vorbei. Angesprochen darauf, wie sie an einem solch historischen Tag nicht mitdemonstrieren, sind sie verlegen und meinen, ja das sei wohl falsch.

Es ist kein Schweigemarsch, sondern eine kämpferische Manifestation. In den Häuserschluchten der berühmten Istiklal Caddesi sind Slogans in armenisch und türkisch, den Völkermord anklagend und zum Widerstand aufrufend laut zu hören. Den Herrschenden gilt die Parole: „Euer ist der Völkermord – Unser ist der Widerstand!“ Den Werktätigen aller Nationalitäten gelten: „Es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker!“; „Schulter an Schulter gegen den Faschismus!“. Den türkischen, kurdischen sowie Werktätigen anderer Nationalitäten, die mit beteiligt am Völkermord waren: „Leugne nicht! Schweige Nicht! Mach dich nicht mitschuldig!“.

Viele Menschen fragen uns neugierig, woher wir kommen. Wenn wir sagen aus Deutschland, und dass wir für die Aktionen um den 24.April gekommen sind, bedanken sie sich. Wir wehren ab, das sei doch selbstverständlich. Aber sie bestehen darauf, es ist ungemein wichtig, dass RevolutionärInnen gerade aus dem Land der Mittäter ihre Solidarität an diesem Tag mit ihnen demonstrieren. Dieser Herzlichkeit und internationalistischen Verbundenheit sind wir auf allen Veranstaltungen begegnet.

Am Ende der Demonstration kurz vor dem Taksim, stoßen wir auf die Kundgebung zum Aufstellen eines Wunschbaumes der Künstlerin Hale Tenger vor dem französischen Konsulat. Obwohl Nor Zartonk, Mitglied des Bündnisses „100Jahre Leugnung sind genug“[18] ist, nahmen die anderen Organisationen nicht an der Demo von Nor Zartonk teil. Ihr Verständnis über die Gestaltung des Gedenktages, das auch die über den Tag hinweg gelaufenen Aktionen prägte, war teils ein anderes. Sie wollten stilles Gedenken, keine Parolen und politischen Äußerungen.

Die gemeinsame Kundgebung wird mit Reden beendet. Während der Demonstration gab es weder Angriffe der Polizei, die sich sehr zurückhielt (internationale Presse!) noch von türkischen Chauvinisten. Eine kleine Gruppe wurde am Ende der Demo von der Polizei eingekreist und abgedrängt.

Begonnen hatte dieser Tag mit einer Aktion vor dem ehemaligen Gefängnis, (Sultanahmet Platz, historisches Zentrum von Istanbul), wo in der Nacht des 24.April 1915 die armenischen Intellektuellen inhaftiert worden waren, organisiert von dem Bündnis „100Jahre Leugnung sind genug“. Eine Presseerklärung wurde in armenisch, türkisch und englisch verlesen, u.a. von der Anwältin Eren Keskin. Vor Transparenten, die die Anerkennung des Völkermordes und Entschädigungen forderten.

Organisationen des Bündnisses hatten eine Gruppe von ungefähr 100ArmenierInnen, Nachfahren der Ermordeten, zu diesem Tag aus anderen Ländern eingeladen.

Wir trafen aber auch viele ArmenierInnen aus der Diaspora, die selbst organisiert in die Türkei gekommen sind, um an diesem Tag zu zeigen: „Wir sind da. Wir leben und wir wollen, dass ihr euch der Geschichte und der Wahrheit stellt“, so eine junge Frau aus den USA.

Sprecher des Bündnisses riefen am Ende der Aktion dazu auf, durch die Altstadt zum Bosporus zu laufen.  Dort warte ein Schiff um uns zu dem Bahnhof Haydar Paşa auf der asiatischen Seite zu nehmen.

Ausdrücklich wurde angemahnt, keine Schilder, Transparente zu tragen und keine Parolen auf dem Weg zum Hafen zu rufen. Ein Demozug von über 400 Menschen bewegte sich durch die kleinen Straßen. Wir wurden laufend von Menschen aus der Bevölkerung angesprochen, „Ihr seid doch keine Touristengruppe, was macht ihr hier?“ Wir erklärten so vielen, wie nur möglich, welcher Tag heute ist und warum wir hier sind.

Wir sind, wie auch bei den anderen Aktionen, keiner Anfeindung begegnet, was uns sehr verwunderte. Im Gegenteil es gab viele Nachfragen und auch positive Kommentare.

Die Aktion vor Haydar Paşa – von dem aus die armenischen Intellektuellen 1915 deportiert wurden – verlief wie auf dem Sultanahmet Platz. Es waren Veranstaltungen vor allem für die internationale und türkische Presse, wie auch für die Nachfahren um ein wichtiges Zeichen zu setzen. Nicht nur wir, auch andere AktionsteilnehmerInnen meinten, es wäre gut gewesen, wenn die Bedeutung dieser Aktionen mit Transparenten und Flugblättern den Werktätigen Istanbuls auf der Straße mitgeteilt worden wäre.

Am Mittwoch vor dem 24.April hatten wir die Möglichkeit das Konzert „In Memoriam“, organisiert von AKA-DER in Zusammenarbeit mit der Musikgruppe Kardeş Türküler und armenischen KünstlerInnen aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel Vater und Sohn, Onnik und Ara Dinkijan und die Rocksängerin Eileen Khatchadourian, sowie KünstlerInnen aus der Türkei zu besuchen. Auch wenn die Veranstalter selbst nicht vom Völkermord sprachen, so trugen Nachkommen von ermordeten ArmenierInnen Gedichte und Texte zwischen den Musikdarbietungen vor, die ihr Leid ausdrückten und den Genozid eindringlich benannten. Über 2000 vor allem armenische Menschen, aus Nordkurdistan/Türkei und der Diaspora besuchten dieses Konzert im Herzen Istanbuls, im Kongresszentrum.

In Artikeln und Erklärungen der revolutionären Linken in Nordkurdistan/Türkei, z.B. der TKP/ML (Partizan)3 wurden der Völkermord und die Verantwortung, des türkischen und deutschen Staates zwar verurteilt. Was natürlich wichtig ist, aber es wurde nicht auf die Mitschuld der kurdischen und türkischen Werktätigen an dem Genozid eingegangen. Noch wurden konkrete Forderungen nach Entschädigungen, Recht auf Selbstbestimmung der armenischen Nation in der Türkei, noch nach einem Rückkehrrecht für die Nachkommen aufgestellt. Das zeigt wie weit der Weg noch ist innerhalb der revolutionären Bewegung zu einem kommunistischen Verständnis dieser Frage.[19]

Berlin, Köln und anderswo

Im Mittelpunkt all unserer Aktivitäten standen die Solidarität mit dem armenischen Volk und das Brechen des Schweigens über die Mittäterschaft des deutschen Imperialismus am Genozid. Wir haben die ICOR Erklärung „100 Jahre Völkermord an den Armeniern! Zeit sich der Geschichte zu stellen!“ unterzeichnet und verbreitet. Die gemeinsame Erklärung BP-TA haben wir in hoher Auflage als Flugblatt auf zahlreichen Aktionen verteilt und intensive Diskussionen darüber geführt. In verschiedenen Städten in Deutschland und Österreich haben wir zu dem Thema, auch zusammen mit anderen Organisationen, eigene Veranstaltungen organisiert. Armenische Gemeinden und Vereine haben zahlreiche Veranstaltungen, Diskussionen, Konzerte, Kulturelle Darbietungen und Demonstrationen organisiert. Wir haben uns an vielen beteiligt.

Wir können hier nur von einer kleinen Auswahl der Aktivitäten berichten.

Berlin

In Berlin fanden zahlreiche Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100.Jahrestages des Völkermords an den ArmenierInnen statt. Auf allen waren hauptsächlich Menschen mit armenischen Wurzeln anwesend, wenig Deutsche und wenige Türken und Kurden, an der Hand abzählbar. Wir haben überall unser Flugblatt verteilt, das die Menschen auf den Kundgebungen und während der Demonstrationen als Plakate hochhielten.

Am 18.April wurden vor der Türkischen Botschaft von AGA Mahnwache und Mahngang unter dem Motto: „100Jahre Genozid im Osmanischen Reich – in der Türkei geleugnet, in Deutschland verschwiegen“, veranstaltet. Wir haben die Transparente mitgetragen und Gespräche geführt. Es ist immer noch eine große Wunde, die weiter blutet.

Ohne Umschweife haben die Älteren gleich von den Schicksalen ihrer Familien berichtet. Der Völkermord hat die Familien auseinandergerissen, sie leben über viele Länder verteilt. Das Schicksal eines Mannes hat uns sehr berührt.

Der Großvater ist aus der Gegend von Maraş/Türkei in den Libanon geflohen, wo sie herzlich aufgenommen wurden und er voll des Lobes für die arabische Bevölkerung war. Dann flüchtete er 1975 nach Deutschland als der Bürgerkrieg anfing. Er war im Libanon sehr aktiv und sie, „die armenischen Nationalisten“ hatten auch Kontakt zu Kommunistischen Gruppen. Seine Frage war, wie wir „Stalinisten“ dazu kämen, die „armenischen Nationalisten“ zu unterstützen?

Wir versuchten unseren Standpunkt als KommunistInnen zu erklären: Als Internationalisten sind wir für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen nationale, rassistische Unterdrückung. Gleichzeitig haben wir auch unser Unbehagen geäußert unter deutschen und EU Fahnen auf einer Aktion zu laufen, da wir als KommunistInnen gegen den Nationalismus sind.

Freude aber auch Scham ergriffen uns, wenn sich TeilnehmerInnen bei uns bedankten, sobald sie erfuhren, dass wir türkische und kurdische Wurzeln haben. Es war beschämend, dass nicht Türken, Kurden und auch Deutsche mehrheitlich die Forderungen zur Anerkennung auf die Straße trugen. Das war leider bei allen Veranstaltungen der Fall.

Am 23.April wurde vor dem Berliner Dom ein Lichterzug der Vergessenen organisiert. Hunderte Kerzen brannten vor dem Dom. Im Dom fand ein Gottesdienst statt. Nationaler Oberpfarrer Gauck ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen zu sprechen. Die Frage war, wie er tricksen wird, welche Wortklauberei er betreiben wird. Wie einen Tag später in der Presse zu lesen war, hat er das Wort Völkermord benutzt und von deutscher Schuld durch einige Offiziere gesprochen. Das trifft nicht annähernd die Mitschuld des Deutschen Kaiserreichs an dem Genozid.

Das Deutsche Reich war Finanzier, Waffenbruder, Mitplaner und Organisator des Genozids. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Insofern ist es Verharmlosung, wenn Gauck von Völkermord spricht, und dabei falsch die deutsche Rolle auf einzelne Täter im Offiziersstab zu reduzieren versucht.

Der Lichterzug lief mit einigen Tausend Menschen Richtung Brandenburger Tor.

Am 24.April waren wir auf der Protestveranstaltung vor dem Reichstagsgebäude, anlässlich der Debatte im Deutschen Parlament über die Anerkennung des Völkermords. Auch hier haben wir mit armenischen Jugendlichen zusammen unseren Flyer verteilt.

Am 25.April fand die zentrale Demonstration statt: „100Gedenkjahr des Genozid an den Armeniern. Gegen Vergessen! Für Anerkennung!“ Vor dem Bundeskanzleramt sammelten sich ca. 5000 Menschen, überwiegend ArmenierInnen, und forderten in Reden und Transparenten endlich Anerkennung des Genozids durch die Bundesregierung und durch das Parlament. Sie kritisierten das 100Jahre andauernde Schweigen durch deutsche Regierungen.

Leider durchschauten die Veranstalter nicht die Manöver der Bundesregierung und Gaucks. So wurde Gauck für seine Rede im Berliner Dom gelobt, dagegen Obama hart kritisiert für seinen Schulterschluss mit der türkischen Position des Leugnens des Völkermords.

Auf vielen Transparenten wurde das Schweigen immer wieder thematisiert: „Unsere Wunden sind offen“, „Tränen aus Blut weinen wir“, „Völkermord durch Türken 1915 anerkennen, jetzt und hier!“ „Wir hätten 1939 verhindern können, hätten wir 1915 verurteilt!“, „Nie wieder: Völkermord!“ Parolen wurden gerufen: „Erdoğan Lügner“, „Völkermord an den Armeniern, Anerkennung jetzt!“

Wir haben das Transparent getragen: „1915-2015 100Jahre Völkermord. Türkei leugnet – Deutschland verschweigt.“ Und wir haben diese Parole auch gerufen. Unser Flugblatt fand so viel Zustimmung, dass armenische Jugendliche es selbst verteilten.

Ein Genosse hatte die Idee einen kleinen Stand am Demobeginn zu eröffnen. Wir haben sehr viel Zuspruch bekommen und es gab großes Interesse an unseren Zeitungen. Wir haben auch 200 Flugblätter in Armenisch und 100 in Englisch verteilt.

Es war einfach überwältigend wie die armenischen TeilnehmerInnen uns aufgenommen haben. Sie waren zuerst irritiert als sie hörten, dass wir türkische und kurdische Wurzeln haben, empfingen uns herzlich, und genauso freundlich blieben sie, als wir ergänzten, dass wir Kommunist­Innen sind.

In Berlin haben wir auch auf der „Revolutionären 1.Mai-Demo“ das Transparent zum Völkermord an den ArmenierInnen getragen und einen Redebeitrag dazu gehalten.

Das Gorki Theater in Berlin bot eine beeindruckende, vielfältige Veranstaltungsreihe „Es schneit im April – eine Passion und ein Osterfest“ zum 100.Jahrestag an. Wir haben an vielen teilgenommen. Filme, Musik, Lesungen, Theaterstücke, Debatten…

Herausragend das Dokumentartheater von H-W. Kroesinger, „Musa Dagh – Tage des Widerstands“. Darin wird die Beteiligung Deutschlands in den Mittelpunkt  und die Frage nach heutiger Verantwortung und den Umgang mit Geschichte gestellt.

Die Diskussion zwischen Christin Pschichholz, Jürgen Gottschlich und Wolfgang Gust über „Deutsche Verantwortung am Völkermord“ war spannend und lieferte viel Material.

Köln

In Köln beteiligten wir uns an Gedenkveranstaltungen, sowie einer Podiumsdiskussion unter dem Motto „Erinnerung und Verantwortung“. TeilnehmerInnen waren Bilgin Ayata (Uni Berlin), Mithat Sancar (Uni Ankara), Talin Suciyan (Uni München). Hayko Bagdad (Schriftsteller und Journalist aus der Türkei), Minu Nikpay (Vorsitzende Armenische Gemeinde Köln).

Die Diskussion verlief in türkischer Sprache, mit Simultanübersetzung in Deutsch und Armenisch. Ungefähr 400 Besucher waren da. Die Diskutanten haben sich fast ausschließlich mit der Täterschaft des türkischen Staates auseinandergesetzt. Die Verantwortung Deutschlands wurde nur gestreift. Als es die Gelegenheit gegen Ende der Veranstaltung gab, haben wir konkret nach der deutschen Täterschaft gefragt. Als darauf geantwortet wurde, führte das zu einem Tumult.

Ein deutscher Mann sprang auf und wollte ob der angeblichen Verleumdungen Deutschlands, das seiner Meinung nach, keinerlei Mitschuld trägt, das Podium stürmen. Daher kam es leider zu keiner weiteren Diskussion.

Unserem Flugblatt in deutsch-türkisch, sowie unserer Zeitung und Broschüre „Armenien“ wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Selbst Gratulationen blieben nicht aus, wir sind nur auf Sympathie und Zustimmung gestoßen.


[1]     Serdar Korucu, Aris Nalcı, „2015’ten 50 yıl önce 1965 1915’ten 50 yıl sonra“, (50 Jahre vor 2015 - 1965 - 50 Jahre nach 1915), Ermeni Kültürü ve Dayanışma Derneği, 2014

[2]     Nationaler Befreiungskrieg: 1919-1922. Gegen die völlige Zerschlagung und Aufteilung des Osmanischen Reiches in imperialistische Einflussgebiete der Entente-Mächte, England, Frankreich, Italien und Griechenland stellte sich Mustafa Kemal an die Spitze osmanischer Truppenteile und widersetzte sich erfolgreich diesem Vorhaben. Die militärischen Erfolge seiner Armee erzwangen von den Imperialisten den Abschluss des Vertrages von Lausanne, der den 1920 zwischen den Entente Mächten und dem Osmanischen Reich geschlossenen Vertrag von Sèvre aufhob.

[3]     Gasi Mustafa Kemal Pascha, „Der Weg zur Freiheit, 1919-1920“, Originaltitel „Nutuk“, Deutsche Ausgabe 1928, S.4-5, Verlag K. F. Koehler, Leipzig

[4]     Mohammedaner, mohammedanisch: Umgangssprachlich veraltet für Muslime und muslimisch. Mohammedanismus veraltet für Islam.

[5]     Kemal, „Der Weg“, S. 16

[6]     Taner Akçam, „Armenien und der Völkermord, Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“, 2004, S.126-127, Hamburger Edition

[7]     Kurt Ziemke, „Die Neue Türkei“, 1930, S.126, Deutsche Verlags-Anstalt

[8]     Ayşe Hür, „6-7 Eylül yağmasının 59.yıldönümünde Cumhuriyetin azınlık raporu“, 07.09.2014, S.2

[9]     Kemal, „Die Nationale Revolution 1920-1927“, Deutsche Ausgabe 1928, S. 263, Verlag K. F. Koehler, Leipzig, S. 263

[10]    Ziemke, „Türkei“, S.282

[11]    „Lausanner Vertrag über den Schutz von Minderheiten in der Türkei vom 21.Juli 1923“, www.suryoyo.uni-goettingen.de/library/laussaner-vertrag.htm

[12]    de.wikipedia.org/wiki/Enteignung_der_Armenier_in_der_Türkei, Stand 14.07.2015

[13]    Kemal, „Der Weg“, S.266

[14]    September 1930, Ayşe Hür, „6-7Eylül yağmasının“, 07.09.2014, S.4

[15]    Akçam, „Istanbuler Prozesse”, S. 137

[16]     „Enzyklopädie der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, Bd.1, S.728-729, 1950, Verlag Kultur und Fortschritt Berlin

[17]    Selbstdarstellung in ihrer Zeitschrift gleichen Namens: Nor Zartonk ist eine Selbstorganisierung des armenischen Volkes. Nor Zartonk – steht für Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden; –vertritt das Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Internationalismus; –ist gegen das Kapital und für die Werktätigen; –tritt für die Gedanken-, Meinungs- und Organisierungsfreiheit ein; –vertritt Basisdemokratie und Selbstverwaltung - ist gegen Rassismus, Nationalismus, Militarismus und jegliche Diskriminierung; –stellt sich gegen das Patriarchat (Männerherrschaftssystem); –ist gegen jede Diskriminerung aufgrund der geschlechtlichen Ausrichtung oder Identität; –steht für ein ökologisches Leben und für Anerkennung aller Arten; –ist gegen die Gerontokrasie, die Herrschaft der Alten über die Jungen. www.norzartonk.org

[18]    AKA-DER, IHD (Menschenrechtsverein), Nor Zartonk, Turabdin Süryanileri Platformu, Yüzleşme Platformu, Zan Sosyal Siyasal İktisadi Araştırmalar Vakfı

[19]    Siehe Gemeinsame Erklärung „Wir verurteilen erneut den Genozid an den Armeniern am Hundersten Jahrestag“. TKP/ML, KPGriechenlands/ML; Revolutionäre Front zur Verteidigung der Rechte der Völker Brasilien; Revolutionäre Front der Völker Boliviens, (ML-Maoistisch); Union der Revolutionären Kommunisten Chile (ML-M); Organisation zum Wiederaufbau der KP-Kolumbien; KP Ecuador-Rote Sonne; MSG-Maoistische Gruppe (Keine Landesangabe TA); Revolutionäre ml-m Lerngruppe USA; KP Indien (ML); ML Proletarische Linie Marokko.