Zur aktuellen Situation in Nordkurdistan und der Türkei
Krieg an vielen Fronten … Perspektiven?
In Nordkurdistan führt der türkische Staat seit dem 24. Juli 2015 offen einen barbarischen Kolonialkrieg gegen die kurdisch nationale Befreiungsbewegung unter Führung der PKK. Das offiziell erklärte Ziel des türkischen Staates unter Führung der AKP-Regierung ist, die „PKK-Terrororganisation zu entwaffnen und zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes gegen den Staat zu zwingen“.
Auf die Forderungen der HDP („Demokratische Partei der Völker“) und der zu schwachen Friedensbewegung, die Kriegshandlungen zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren, antwortet die AKP-Regierung mit einem strikten „Nein“.
Der auch für die AKP-Regierung maßgebende politische Akteur der Türkei, Staatspräsident Erdoğan verkündet ununterbrochen: „Es gibt keinen Deal. Es gibt keine Verhandlung. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für die Terroristen. Entweder sie ergeben sich den türkischen Strafbehörden, oder sie werden einzeln bis zum letzten Mann in den von ihnen selbst ausgehobenen Löchern getötet.“ Er droht weiter: „Wir werden alle notwendigen Maßnahmen, einschließlich des Entzugs der Staatsbürgerschaft, treffen um diesen Krieg gegen die Terroristen zu gewinnen. …Wenn es dafür notwendig sein wird, werden wir die Städte vollständig evakuieren und die Häuser von der Luft aus dem Erdboden gleichmachen.“ (06.04.2016)
Die Kriegsführung des türkischen Staates in Nordkurdistan verläuft momentan so:
In kurdischen Städten und Stadtvierteln, in denen die kurdische Nationalbewegung die „demokratische Selbstverwaltung“ erklärt hat und diese durch den bewaffneten Widerstand zu behaupten versucht, werden zuerst Ausgangsverbote verhängt. Dann werden die Gebiete systematisch von Haus zu Haus nach bewaffneten KämpferInnen durchsucht, um den bewaffneten Widerstand mit massivem Einsatz von Panzern und Kanonenfeuer im Keim zu erstickten.
Die kurdische Zivilbevölkerung wird von der PKK aufgerufen, ihre Häuser nicht zu verlassen und mit zivilen Ungehorsam-Aktionen ihre Stimme gegen die Massaker zu erheben. Von der türkischen Armee und den Polizeieinheiten wird ihr befohlen, die Städte, in denen Kampfhandlungen stattfinden, vorübergehend, bis die „öffentliche Ordnung“ wiederhergestellt ist, zu verlassen.
Fakt ist, die übergroße Mehrheit der kurdischen Zivilbevölkerung verlässt in den Ausgehverbotszonen ihre Häuser und versucht bei Verwandten und Freunden in der näheren Umgebung unterzukommen. Ein Teil wurde von staatlicher Seite in Hotels untergebracht.
Bis zu den militärischen Erfolgen der PYD/YPG, 1 vor allem dem Sieg gegen den IS in Kobanê 2014, schien eine politische Lösung des über dreißig Jahre andauernden Kriegs zwischen dem türkischen Staat und der PKK zwischen der AKP-Regierung und der PKK möglich.
Nach einer gegenseitigen Waffenruhe von etwa zwei Jahren war vorgesehen, die PKK gibt ihren bewaffneten Kampf in dem türkischen Staatsgebiet auf und zieht ihre KämpferInnen aus dem türkischen Staatsgebiet ab. Demgegenüber würde der türkische Staat im Zuge der Demokratisierung den Kurden in der Türkei bestimmte demokratische-nationale Rechte zuerkennen und die Zuständigkeiten der regionalen Verwaltungen erweitern.
Die Rückkehr und die Wiedereingliederung von PKK-KämpferInnen war vorgesehen, ausgenommen 200 bereits angeklagte, bzw. verurteilte PKK-Mitglieder der Führungsriege. Nicht zuletzt war auch die Verbesserung der Lebensbedingungen von PKK Gründer Abdullah Öcalan als „der anerkannte Verhandlungsführer der kurdischen Seite” ein Teil des Deals.
Gemäß dem Motto von Öcalan in seiner Newroz Rede 2013 würde so „eine neue Ära beginnen, in der die Waffen schweigen, und die Politik spricht.“ Der Staat – unter Führung der AKP-Regierung/Erdoğan – verhandelte, mit dem im Knast sitzenden Öcalan und der PKK. Diese Verhandlungen, die durch Vermittlung der HDP zustande kamen, waren soweit gediehen, dass Öcalan am 28. Februar 2015 bereit war, die PKK aufzurufen, „einen Kongress im Frühling 2015 einzuberufen, auf dem die Aufgabe des bewaffneten Kampfes im türkischen Staatsgebiets bekannt gegeben und der Abzug der Guerillaeinheiten aus dem türkischen Staatsgebiet beschlossen werden wird .“ 2
Das alles geht aus den in Deutschland veröffentlichten Protokollen der Gespräche der HDP-Gesandten mit Abdullah Öcalan hervor. Diese verliefen unter Aufsicht eines Beamten des „Staatssekretariats für öffentliche Ordnung“, der munter mitdiskutierte. Obwohl dieser Aufruf von Öcalan im Februar erfolgte, ging der Krieg nicht zu Ende.
Dabei spielte die Einschätzung von der Regierungs- und Staatsseite nach den Ereignissen am 5./6. Oktober 2014 eine entscheidende Rolle. Sie befürchtete in den kurdischen Gebieten die Kontrolle zu verlieren, wenn nicht die bewaffnete Kraft der PKK, in Form von bewaffneten Milizkräfte der PKK-Jugendorganisation YDGH, gebrochen wird.
Zwischen dem 5./6. Oktober 2014 kam es nach einem Aufruf der HDP „Kobanê ist überall“ in den Gebieten Nordkurdistans, in denen die PKK stark verankert ist, zu Aufständen. In den bewaffneten Auseinandersetzungen starben über 50 Menschen und hunderte wurden verletzt. Erst nach einer Erklärung von Öcalan wurden die Aufstände beendet.
Der nach diesen Ereignissen tagende „Nationale Sicherheitsrat“ fasste den Beschluss, „den Kampf gegen die terroristischen Organisationen entschlossen bis zum Ende zu führen.“ Namentlich werden als Zielscheibe des „Anti-Terror-Kampfs“ die PKK, der IS und die Fethullah Gülen-Cemaati („Gemeinde“, auch Parallelstaat genannt) angeführt.
Was die PKK betrifft, kam diese Erklärung des Staates einer Aufkündigung des sogenannten „Lösungsprozesses“ und einer neuerlichen Kriegserklärung gleich. Allerdings wurden die Gespräche mit Öcalan und PKK nicht sofort abgebrochen, sondern bis zum 5. April 2015 weitergeführt.
Als der türkische Staat zu der Einschätzung kam, die PKK, wie diverse Erklärungen der PKK-Führer nahelegten, würde nicht ohne Vorbedingungen den bewaffneten Kampf in der Türkei/Nordkurdistan aufgeben und sich zurückziehen, sondern sogar einen Aufstand/Volkskrieg vorbereiten, war der Zeitpunkt des Großangriffs des türkischen Staates auf die PKK nur eine Frage des günstigsten Moments.
Die PKK-Führung in Kandil/Südkurdistan-Nordirak war gegenüber den Verhandlungen des türkischen Staats mit dem verhafteten „Führer der PKK” Öcalan sehr skeptisch und eine Aufgabe des bewaffneten Kampfes in der Türkei war für die Mehrheit nicht denkbar. Die spektakulären Erfolge in Rojava, die Anerkennung der PYD/YPG durch die USA und anderen westlichen imperialistischen Mächten als eine „säkular demokratische Kraft, die am Boden erfolgreich gegen IS Terrorbanden kämpft und Unterstützung verdient” hat der PKK-Führung die Hoffnung gegeben, dass im Falle eines Kriegs der Türkei gegen die PKK, dieser von den westlichen imperialistischen Mächten nicht unterstützt werden würde.
Als die Beziehungen der Türkei mit Russland durch den Abschuss eines russischen Militärflugzeugs auf den Null-Punkt sanken, bekam die PYD/YPG eine zweite Großmacht als Alliierten.
Die PKK hat die Unterstützung der PYD/YPG in Syrien durch diverse imperialistische Mächte, die im Prinzip in nichts anderem besteht, als die PYD/YPG als Bodentruppe gegen den IS zu verwenden, auch als Unterstützung für ihre Organisation begriffen: Sie fühlte sich stärker als sie ist.
Bis zu den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 hielt das gegenseitige Stillhalteabkommen zwischen PKK und dem türkischen Staat weitgehend. Das Ergebnis der Parlamentswahlen zeigte zweierlei: Die AKP hatte, verglichen mit den vorhergehenden Parlamentswahlen, etwa neun Prozent der Stimmen verloren. Sie wurde zwar wieder die stärkste Kraft im Parlament, hatte aber die Möglichkeit, allein ohne Koalition zu regieren verloren. Die Bemühungen der AKP auf Verhandlungswege mit der PKK, vor allem mit Öcalan, die kurdische Frage friedlich zu lösen, haben sie WählerInnen gekostet. Diese sind teilweise zur MHP und teilweise zur HDP abgewandert.
Sowohl die stramm türkisch-rassistische MHP, als auch die als wirkliche Friedenspartei auftretende HDP, haben bedeutende Stimmengewinne erzielt. In der tief gespaltenen Gesellschaft hat die HDP in ihrem Wahlkampf ab einem bestimmten Zeitpunkt auf radikale Erdoğan-Feindschaft gesetzt.
Viele Menschen, die ansonsten die CHP oder überhaupt nicht gewählt haben, sahen in der HDP die einzige Möglichkeit, Erdoğans Weg in die „Ein-Mann-Herrschaft” zu stoppen. Mit vielen „Leihstimmen”, wie die HDP Vertreter selbst nach den Wahlen erklärten, erhielt sie sechs Millionen Stimmen.
Das ist die höchste Stimmenzahl, die eine „links neben der CHP stehende” Partei in der Türkei je erhalten hatte. In manchen Städten Nordkurdistans lag der Stimmenanteil der HDP über 90 Prozent. Die PKK-Führung hat dieses Wahlergebnis als Unterstützung ihrer Linie und ihres bewaffneten Kampfes interpretiert. Nach den Wahlen am 7. Juni haben verschiedene PKK-Führer die Zeit reif für einen Volkskrieg erklärt. Seit Juli erfolgten in den Städten mit über 90 Prozent HDP-Stimmen „Autonomieerklärungen” durch HDP BürgermeisterInnen und VertreterInnen der „Stadtkommunen”.
Nach einem IS-Bombenanschlag am 20. Juli 2015 in Suruç, der von PKK-HDP und fast allen linken Organisationen als Teil des Kriegs der AKP-Regierung und des „Schlosses” (Erdoğan) gegen das Volk deklariert wurde und nach einer sogenannten „Racheaktion” bei der zwei Polizisten im Schlaf umgebracht wurden (die Verantwortung für diese Aktion hat die PKK zuerst übernommen, später dann an eine „regional agierende Gruppe Jugendlicher“ delegiert), war für den Staat der günstigste Zeitpunkt für den Generalangriff auf die PKK gekommen.
Seit dem 24. Juli 2015 läuft nun der Krieg, bei dem sowohl der Staat als auch die PKK sich damit rühmen, der Gegenseite große Verluste beigebracht zu haben. Für beide Seiten gibt es hunderte „Märtyrer” (eigene Verluste) und „ausgeschaltete Terroristen” (Staat) oder „getötete Banditen” (PKK).
In diesem Krieg, der von der PKK fälschlicherweise als ein „Völkermordkrieg gegen das kurdische Volk” definiert wird, sterben auch Dutzende Zivilisten, vor allem KurdInnen, die in den kurdischen Gebieten zu überleben versuchen. Die größte Last und das Elend des Kriegs trägt das kurdische Volk. Dieser Krieg zielt auch darauf ab, die freundschaftlichen Bande der Völker zu kappen und den türkischen Chauvinismus und den Rassismus zu schüren.
Nach der politischen Bewertung kommunistischer Organisationen in Nordkurdistan/Türkei, wie von Bolşevik Parti („Bolschewistische Partei“/Nordkurdistan-Türkei), die wir teilen, kann dieser Krieg weder vom türkischen Staat, noch von der PKK gewonnen werden.
Die Arbeiterklasse und die werktätige Bevölkerung haben überhaupt nichts zu gewinnen. Insofern ist die einzig richtige Forderung in diesem Krieg:
Sofortiger Stopp des Kriegs! Frieden jetzt, sofort!
Jedwede Forderung, diesen Krieg auch in die Metropolen der Türkei zu tragen, ist unter den gegebenen Verhältnissen, in denen diese Aufrufe letztendlich praktisch Aufrufe sind, Selbstmordattentate zu verüben, die sich auch gegen die Zivilbevölkerung richten, nicht im Interesse der Völker.
Der türkische Staat, der als imperiale Regionalmacht auftritt und von der Neuaufteilung des Mittleren Ostens auch profitieren will, führt auch an vielen anderen Fronten offen oder verdeckt Krieg.
Die türkische Großbourgeoisie ist Beteiligte des Kriegs in Syrien; des Kriegs in Irak, des Kriegs, der aktuell um Berg Karabach wieder losbrach. Sie führt Krieg gegen den IS, gegen die Gülen-Sekte. Diese hat in über vierzigjähriger Kleinarbeit die staatliche Bürokratie, seit der AKP-Machtübernahme Anfang 2002 mit deren tatkräftiger Hilfe, zum großen Teil unterwandert. Bis die Gülen-Truppe nach einem Putschversuch gegen die AKP (Ende 2011) in Ungnade fiel und jetzt rigoros von dieser bekämpft wird.
Die Gesellschaft ist politisch tief gespalten. Für die fast 50 Prozent der WählerInnen, die die AKP wählen, sind Erdoğan und die AKP-Regierung ein Gottesgeschenk für die Türkei. Die Türkei, so hoffen sie, wird sich unter ihrer Regierung zu einer Großmacht, wie es einst das Osmanische Reich war, entwickeln.
Die imperialistischen Großmächte und auch Regionalmächte wie der Iran, Saudi-Arabien etc. wollen das um jeden Preis verhindern. Sie würden deswegen mit Hilfe ihrer Agenten in der Türkei, mit der PKK, der Gülen-Sekte, den sogenannten „Intellektuellen”, der CHP etc. darauf hinarbeiten diese AKP-Regierung und Erdoğan zu stürzen. Koste es, was es wolle!
Für den anderen Teil der Gesellschaft, aufgeteilt in verschiedene Fraktionen, ist das alles verbindende Bild der Türkei folgendes: Erdoğan und die AKP-Regierung seien das aller größte Unglück für die Türkei. Die AKP würde, wenn sie nicht gestürzt wird, die Türkei und sich selbst direkt in den Abgrund treiben. Sie müsse gestoppt und gestürzt werden. Dafür sollten auch westliche Mächte ihr Gewicht in die Waagschale werfen.
Der Großteil der „Linken” steht bei dieser Spaltung der Gesellschaft in der anti-AKP/Erdoğan-Front. Sich dieser Spaltung anzupassen, bedeutet nichts anderes, als sich zum Teil des Machtkampfes verschiedener Gruppierungen innerhalb der Bourgeoisie zu machen.
Nur wenige revolutionäre und kommunistische Organisationen/Parteien in Nordkurdistan/Türkei entziehen sich dieser Spaltung und versuchen ihre eigene unabhängige Politik durchzuziehen, die nicht nur die AKP und Erdoğan, sondern den türkischen Staat insgesamt zur Zielscheibe des Klassenkampfes macht.
FRIEDEN JETZT! Das ist unsere Losung.
Mitte April 2016
Kurzinformation
über eine neue Entwicklung
Am 12. März wurde die Gründung einer neuen Organisation namens „Halkların Birleşik Devrim Hareketi “(HBDH) – „Vereinigte Bewegung der Revolution der Völker“ öffentlich gemacht. In einer gemeinsamen Pressekonferenz von Vertretern der teilnehmenden Organisationen und Parteien in einem von der PKK kontrollierten Gebiet in Nordkurdistan gab PKK-Führer Duran Kalkan, den Zusammenschluss folgender Organisationen in der HBDH bekannt: Kürdistan İşçi Partisi (PKK); Devrimci Karargâh; Marksist Leninist Komünist Partisi (MLKP); Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist (TKP/ML); Maoist Komünist Partisi (MKP); Türkiye Komünist Emek Partisi/Leninist (TKEP-L); Türkiye İhtilalci Komünistler Birliği (TİKB); Devrimci Komünarlar Partisi (DKP); Türkiye Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi/Marksist Leninist Silahlı Propaganda Birliği (THKP-C/MLSPB). Das sind faktisch – ausgenommen der DHKP/C – alle in der Türkei kämpfenden Organisationen, die heute den bewaffneten Kampf, als Vorhutskampf verstehen und nach ihren Kräften zu führen versuchen. Dieser Zusammenschluss setzt sich in seiner Gründungserklärung den Sturz der AKP-Regierung, die Errichtung der Demokratie in der Türkei und der demokratischen Autonomie in Kurdistan zum Ziel. Die Erklärungen, die die PKK-SprecherInnen, und diejenigen der anderen teilnehmenden Organisationen zu dieser Gründung abgaben, zeigen die HBDH hat insbesondere das Ziel, dass die, außer der PKK, teilnehmenden Organisationen als Unterstützer-Innen des Kampfes der PKK agieren werden. Sie wollen diesen Kampf sowohl in den kurdischen Gebieten unter Führung der PKK führen, und darüber hinaus diesen Kampf in die Metropolen der Türkei tragen. (12.03.2016, ANF, Firat News Agency) |
1 Praktisch die Geschwisterorganisation der PKK in Westkurdistan/Rojava im Staatsgebiet Syriens.
2 A. Özcalan, „‚Demokratik kurtuluş ve özgür yaşami inşa‘‚(imrali notları)“, (Demokratische Befreiung und Aufbau des freien Lebens“ - Notizen aus Imrali), S. 428, Mezopotamien Verlag, Neuss 2015, www.pirtuk.eu