Tag X in München – NSU-Prozessende
Wir erkennen das Urteil nicht an!
Eindrücke – Wut – Zusammenstehn –Widerstand
Am 11. Juli 2018, dem Tag X, wurde das Urteil im NSU-Prozess im Oberlandesgericht (OLG) verkündet.
Im Vorfeld war klar, das genaue Datum wird sehr kurzfristig, eine Woche vorher, erst bekannt gegeben. Zur Vorbereitung auf diesen Tag haben sich Betroffenen-Initiativen, Angehörige und Opfer des NSU, antifaschistische und antirassistische Gruppen/Initiativen, das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, migrantische und linke Organisationen schon lange vorher in verschiedenen Vernetzungen bzw. Bündnissen zusammengeschlossen.
Unser Ziel war, am Tag X in München mit den Familien und Angehörigen, der vom NSU ermordeten Menschen sowie den überlebenden Opfern der Nazi-Bombenanschläge solidarisch zusammenzustehen. Und gleichzeitig unseren gemeinsamen Protest gegen das skandalöse Gerichtsverfahren und das zu erwartende, den NSU extrem verharmlosende Gerichtsurteil auf die Straße zu tragen. Beim Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ vom 17. bis zum 21. Mai 2017 wurden neue Netzwerke geschmiedet. Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ wurde ein Aufruf für die Aktionen am Tag X veröffentlicht.
Seit September 2014 haben wir, Trotz alledem! in unserem Umfeld, unsere GenossInnen und in der linken Bewegung aufgerufen sich am Tag X zahlreich zu beteiligen. Auch in unseren Publikationen, die wir vor Fabriken und auf Aktionen verteilten ebenso wie in Diskussionsbeiträgen auf Veranstaltungen und auf Betriebsversammlungen.
Am 5. Juli, dem 437. Verhandlungstag, kündigte der Vorsitzende, Richter Götzl, das Urteil für den 11. Juli 2018 an. Endlich stand nach fünf Jahren und zwei Monaten das durch üble Manöver der VerteidigerInnen der Nazi-Angeklagten immer wieder verzögerte Prozessende fest.
Das Motto „Kein Schlussstrich!“ vereinte uns alle! Klar war, die Urteilsverkündung wird kein Ende der Aufklärung sein, denn diese hat der langjährige Prozess nicht betrieben. Für uns alle stand fest, weiterhin „NSU-Komplex auflösen“ zu fordern und voranzutreiben!
Schon die Anklageschrift der Generalbundesanwalt besagte, es wird keine Aufklärung und auch keine Gerechtigkeit im NSU-Prozess geben, egal wie hoch die Strafen ausfallen.
Wir haben bereits 2013 in unserer Zeitung vor dem Beginn des Prozesses vorhergesagt, dass eine wirkliche Aufklärung im NSU-Prozess nicht stattfinden wird. Die Frage: „Wer wird für die NSU-Morde zur Rechenschaft gezogen?“ beantworteten wir: „Vielleicht eine überlebende Täterin und vier Unterstützer.“ Über die Rolle der staatlichen Institutionen, über die Rolle von V-Leuten, die die Morde mit vollstreckten, über Ermittlungen, die gezielt auf falsche Spuren lenkten, weitere Morde nicht verhinderten, sondern begünstigten, Beweise und Akten vernichteten, über die rassistische Stigmatisierung der Angehörigen und Opfer als TäterInnen etc. wird es keine „Wahrheitsfindung“ geben.
Von Anfang an war uns klar, dass das OLG München und Richter Götzl gegen den NSU-Komplex, gegen den institutionellen und strukturellen Rassismus kein Urteil fällen würden. Sie sind ein Instrument dieses Staates. Mit seinen anderen Institutionen, wie dem Bundeskriminalamt (BKA) und Verfassungsschutz (VS), ist dieser Staat mit den NSU-Nazis Hand in Hand gegangen. Diese Systematik wird sich in „milden“ Urteilen bestätigen. Sie werden sich doch selbst nicht verurteilen! Mit dieser Haltung sind wir nach München gefahren.
Wir waren da, um unseren Protest zu zeigen! Ganz laut mit allen zusammen zu sagen: Wir erkennen das Urteil nicht an! Keinen Schlussstrich! Und wir klagen den institutionellen und strukturellen Rassismus an!
Hier in München wird das empörende „milde“ Urteil für die angeklagten NSU-Nazis gesprochen werden, „Der NSU ist frei“.
Kundgebung vor dem Gericht
Hunderte Menschen stehen früh am Morgen vor dem Gerichtseingang in der Schlange, um in den Verhandlungssaal eingelassen zu werden. Ein „Heer“ von Presse, Fernsehen, Radio etc. hat sich aufgestellt, um über das Urteil zu berichten. Da die Kundgebung noch nicht angefangen hat, unterstützen einige von uns die Organisierung der Veranstaltung, andere beobachten das Geschehen vor dem Gericht. Hier sind wir mit TeilnehmerInnen, die sich für unsere Zeitschriften, vor allem eine Sondernummer zum „NSU-Komplex“ interessieren ins Gespräch gekommen. Kurz danach stellen wir fest, dass es verboten ist, vor dem Gericht irgendeine Publikation zu verteilen bzw. zu verkaufen oder auch Transparente zu halten. Offiziell darf niemand auf dem Gehsteig stehen. Das wird aber systematisch nicht eingehalten. Dabei ist die Polizei relativ zurückhaltend, was eigentlich von der bayerischen Polizei nicht zu erwarten ist. Eine riesige von türkischen Chauvinisten ausgebreitete türkische Nationalfahne wird schließlich von der Polizei, entsprechend der Auflagen der Veranstalter für die Kundgebung und Demo, wieder eingerollt.
Der genehmigte Kundgebungsplatz ist mit Gittern abgeteilt. Kurz nach acht Uhr wird der Aktionstag mit einer Gedenkminute an die NSU-Opfer eröffnet und die Namen der Opfer werden genannt. Vor der Bühne werden Porträts der Opfer, gemalt von der Künstlerin Veronika Dimke, hochgehalten. Später auf der Demonstration werden die Schilder von Angehörigen und AktivistInnen getragen. Die Künstlerin selbst hält eine kurze Rede. Aber sie kann nicht wirklich sprechen, sie ist zu sehr aufgewühlt.
Das Aktionsbündnis moderiert und organisiert beeindruckend die gesamte Kundgebung und das Bühnenprogramm. Den Auftakt macht das „Bündnis gegen Naziterror und Rassismus“ (München), das die gesamte Organisation vor Ort koordiniert hatte.
Über den ganzen Tag hinweg sprechen Angehörige, Betroffene und Statements von den NebenklageanwältInnen werden abgegeben. Reden und Grußbotschaften werden vorgetragen von den Initiativen: „Keupstraße ist überall“ (Köln), „für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü“ (Hamburg), „6. April“ (Kassel), „in Gedenken an Oury Jalloh“ (Dessau), „für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş” (Berlin), „Schwarze Menschen in Deutschland“ (ISD), von „NSU-Watch Einmischen & Aufklären“, „Interventionistische Linke“ (IL) und vielen mehr. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten werden der NSU-Prozess und die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse thematisiert.
Unsere Rede hat ein Freund der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) vorgetragen. Eine tolle solidarische Unterstützung, und wir sprechen hier sehr herzlich unseren Dank aus.
Vorgetragene Auszüge des Theaterstückes „Die NSU-Monologe“ berühren uns. Im Unterschied zur Aufführung während des Tribunals begleitet eine Frau die SchauspielerInnen einfühlsam mit Gesang.
Weiter werden Passagen aus »Wir klagen an! Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“« kollektiv vorgetragen. Darin werden namentlich einzeln Nazi-TäterInnen, Institutionen, JournalistInnen, PolitikerInnen, JuristInnen, StaatsbeamtInnen usw. ganz konkret angeklagt. Am Ende wird Richter Götzl als Angeklagter der „Anklage des Tribunals“ hinzugefügt.
Weitere kulturelle Beiträge sind eine Ausstellung über die Opfer des NSU und eine Ausstellung der Initiative „Burak Bektaş“. In einem Zelt wird der Film über die Recherche des „Forensic Architecture Institut“ zum Tathergang der Ermordung von Halit Yozgat, in drei Sprachen – englisch, deutsch und türkisch – gezeigt.
Wir bringen unser Transparent mit den Bildern der neun ermordeten migrantischen Opfer und der Parole „Staat und Nazis – Hand in Hand – Organisiert den Widerstand!“ an.
Bewegende Grußworte von Gülistan Avcı, Faruk Arslan, İbrahim Arslan werden vom Aktionsbündnis verlesen beziehungsweise per Telefon-Live-Schaltung übertragen. Zwischendurch wird immer wieder auch Musik gespielt.
In der Nähe des Gerichts ist in einem Hotel ein „Empfangs- bzw. Rückzugsraum“ für Angehörige, Opfer und Betroffene organisiert. In der Mittagspause sind die Familien Kubaşık, Taşköprü und einige Menschen aus der Keupstraße gekommen.
Einige Hundert AktivistInnen sind vor Ort. Viele bekannte Gesichter, die wir schon beim Tribunal oder bei den Initiativen kennengelernt haben. Von Anfang an begegnen wir uns mit lächelnden Gesichtern, begrüßen und umarmen uns. Was für ein Gefühl der Freude über die ganze Vielfalt aller Menschen, die sich hier zusammengefunden haben.
Uns eint, dass wir gegen Faschismus, gegen Rassismus und gegen das kapitalistische System sind. Ja, es gibt unter uns unterschiedliche politische Haltungen gegenüber dem heutigen System, über unsere Ziele und „Utopien“. Aber an diesem Tag, in diesem antirassistisch-antifaschistischen Kampf stehen wir zusammen auf einer Seite, die institutionellen und strukturellen Rassismus anklagt.
Wir leben in einer Welt, in der überall die Barbarei herrscht, in der die Ellenbogen-Gesellschaft die unterdrückten Menschen gegeneinander hetzt, in der Nationalismus zu Rassismus und Faschismus führt, in der die Herrschenden ihre menschenfeindliche Politik ohne große Hindernisse weiterführen und gleichzeitig sich als „Schützer demokratischer Werte“ verkaufen; ja, in solch einer Welt rührt uns allein, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Ethnie, Kultur, Religion sich begrüßen und umarmen.
Das sind rührende und bekräftigende Gefühle, die gegen das menschenverachtende System unseren Mut und unsere Hoffnung stärken. Es ist dies einer der Momente, in dem das Gefühl aufkommt, hier ist absolut kein Platz für Rassismus. Wie schön wäre es in einer Welt ohne Rassismus, ohne Faschismus und Ausbeutung zu leben. Und wie richtig ist es, für solch eine Welt zu kämpfen!
Mit diesen Gefühlen und dieser Kraft führen wir Diskussionen, geben unser Flugblatt weiter und freuen uns über das Interesse an verschiedenen Ausgaben unserer Zeitung Trotz alledem!
Eine junge Frau, die für einen Schweizer Radiosender berichtet, spricht einen unserer Genossen an, ob sie ihm ein paar Fragen über unsere Meinung zu dem Ergebnis der Gerichtsverfahren stellen könne. Sinngemäß will sie wissen, was wir von dem Urteil erwarten und ob es unserer Meinung nach eine Aufklärung gebe u.a. Seine Antwort lautet kurz skizziert: „Wir erwarten von dem Gerichtsurteil nichts. Es wird die eine oder der andere geopfert, um die Rolle des Staates und seiner Behörden unter den Teppich zu kehren. Das Gerichtsverfahren selbst ist ein Vertuschungsmittel, es gibt und wird keine Aufklärung geben. Von Anfang an haben die Behörden alles dafür getan, dass die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt. Deswegen haben sie Hunderte Akten vernichtet und die ZeugInnen, die vor Gericht aussagen sollten, hatten eine kollektive Amnesie oder haben gelogen... Ohne VS, MAD oder andere Behörden des Staates, ohne ihre Mittäterschaft könnte es keine NSU-Mordserie geben.“
Während der Aktionen versuchen immer wieder unterschiedlich uniformierte Polizisten durch ständiges durch die Reihen Hin- und Her-Gehen oder mit ihren Kameras, die sie direkt auf uns halten, uns Protestierende einzuschüchtern oder – angeblich unabsichtlich – unsere Aktivitäten zu verhindern. Offiziell halten sie sich zurück. Aber sie zeigen uns deutlich, dass sie uns offen überwachen wollen! Jede Menge Zivis (zivile Polizisten) geben sich dummdreist als interessierte Passanten aus und stellen uns auffällig unauffällig verschiedene Fragen. Wie zum Beispiel, wer alles beim Bündnis „Kein Schlussstrich“ dabei sei, aus welchen Städten wir kommen und so weiter.
Kurz vor elf Uhr erreichen uns die ersten Informationen über die Urteilsverkündung. Die Rede von Anwalt Alexander Hoffmann über die Urteilsbegründungen ist sehr zutreffend. Einige Gedanken daraus: Die These vom „Trio“ wird von Anfang bis Ende vom Gericht beibehalten. Damit wird die Rolle der Geheimdienste wie z.B. Verfassungsschutz (VS) und anderer Behörden unter den Teppich gekehrt. Richter Götzl ist für seine harten Strafen bekannt. Doch während in Deutschland ein angeblicher Steinewerfer bei den G20-Protesten überzogen hohe Strafen erhält, bekommen die Nazis, die mehrere Menschen ermordet oder deren Ermordung unterstützt haben, milde Strafen. Dieses Urteil kommt einer Aufforderung an die Nazis gleich, „dass Nazis losgehen und Menschen ermorden können und dass sie für die Unterstützung solcher Taten nur zwei Jahre bekommen.“
Die Empörung gegen das Urteil ist vehement, weil die vier Nazis zu so niedrigen Strafen verurteilt werden.
Die Empörung wächst, als am Nachmittag klar wird, dass der bekennende Nationalsozialist A. Eminger bereits schon freigelassen ist, unter Beifallsbekundungen seiner Nazikumpanen.
Auf der Bühne werden mehrere „feurige“ Reden gehalten. Das Hauptmotto ist ja „Kein Schlussstrich“ und dementsprechend wird auch der weitere Kampf gegen dieses Urteil, das eine erneuter Schlag ins Gesicht der Opfer, der Angehörigen und Betroffenen ist, eröffnet.
In den unterschiedlichen Redebeiträgen zeigt sich uns noch einmal deutlich, dass in dem breit gefächerten Bündnis unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ mindestens drei unterschiedliche Einschätzungen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen – u. a. auch gegenüber dem OLG München vertreten werden.
Die erste Haltung ist, dass wir von diesem Staat und seinen Gerichten, von seinen Behörden nichts erwarten können – denn sie werden sich nicht selbst verurteilen. Diese Institutionen sind die Quelle der inneren Faschisierung und des Anstachelns des Rassismus.
Wer konsequent gegen Faschismus und Rassismus kämpfen will, muss gegen dieses kapitalistische System, gegen den imperialistischen deutschen Staat kämpfen. Außer uns sind es sehr wenige, die diese Haltung klar und deutlich verinnerlicht haben und vertreten.
Die zweite Haltung hat, obwohl sie kein Vertrauen in diesen Staat und seine Behörden setzt, trotzdem Hoffnung, dass das Gericht die Nazis zu harten Strafen verurteilt. Nicht wenige teilen diese Position.
Die dritte Haltung, die mehrheitlich vertreten wird, äußert das völlige Unverständnis darüber, wie der Staat oder das Gericht solche Urteile fällen kann. Das sei doch nicht demokratisch… etc. Diese AktivistInnen sind am meisten enttäuscht und ja, schockiert.
Nachmittags kommen nach und nach immer mehr Menschen zur Demonstration, die um 18 Uhr starten sollte. Der Platz und die Nebenstraßen werden immer voller.
Demonstration
Nach Schwierigkeiten bei der Aufstellung geht die Demonstration mit etwas Verzögerung los. Geplant war ein Block von Angehörigen, Betroffenen und Initiativen vor dem Lautsprecher-Wagen, in dem keine Fahnen oder Transparente von Organisationen getragen werden. Die Organisationen sollten hinter dem Lauti-Wagen laufen. Obwohl die Moderatoren dazu immer wieder aufrufen haben, wird das nicht eingehalten.
Die Beiträge während der Demo entsprechen inhaltlich denen auf der Kundgebung. Sie greifen den institutionellen und strukturellen Rassismus und deklarierten den weiteren Kampf dagegen. Die Solidarität und das Zusammenstehen mit den Angehörigen und Betroffenen steht im Mittelpunkt.
Die Demonstration dauert bis halb neun Uhr am Abend. Am Odeon Platz stehen viele DemonstrantInnen noch eine Weile zusammen bis wir auseinander gehen. Die TeilnehmerInnenzahl liegt geschätzt bei 6 000 bis 10 000 Menschen. Da die Urteilsverkündung auf einen Werktag, Mittwoch angesetzt war, (und auch erst eine Woche vorher bekannt war) ist diese hohe Beteiligung ein eindrückliches Signal.
Wir tragen von Anfang an ein Front-Transparent und während der Demo noch ein Seiten-Transparent. Interesse und Diskussionen über unsere Publikationen begleiten uns während der ganzen Demo. Auch wenn wir relativ wenige GenossInnen sind, da unsere organisierten ArbeiterInnen/Werktätige sich nicht so kurzfristig frei nehmen konnten, sind wir aktiv und präsent. Es ist enorm wichtig an diesem entscheidenden Tag dabei zu sein.
Als wir weggehen, können wir uns leider nicht von allen wieder getroffenen FreundInnen verabschieden. Aber die, die wir noch sehen, verabschieden sich mit dem Wunsch „bis zum nächsten Mal“.
Unter dem Slogan „Kein Schlussstrich“ haben wir unseren Widerstand gegen den institutionellen, strukturellen Rassismus und die anwachsende Faschisierung demonstriert.
Und das nicht nur in München, sondern in vielen Städten Hamburg, Berlin, Köln, Karlsruhe, Frankfurt/a.M, Bremen, Halle, Freiburg, Göttingen, Hannover, Kiel, Leipzig, Münster, Rostock usw. – bundesweit haben Tausende Menschen gegen das Urteil auf den Straßen protestiert!
Ausblick ...
Ja, der Tag X ist schon vorbei und wir waren dabei. Was wir konkret auf der Kundgebung und Demo gesehen und erlebt haben, hat in unseren Diskussionen folgende Gedanken ausgelöst:
Auf der einen Seite steht das menschenfeindliche System und sein Wächter, der deutsche imperialistische Staat mit all seinen Institutionen.
Auf der anderen Seite stehen wir mit allen unterdrückten ArbeiterInnen, Werktätigen verschiedener ethnischer Herkunft. Der größte Teil der deutschen ArbeiterInnen und Werktätigen ist immer noch massiv vom deutschen Nationalismus und Rassismus beeinflusst. Ein nicht unerheblicher Teil sympathisiert mit nazi-faschistischen Ideologien und Kräften. Das erleben wir tagtäglich an unseren Arbeitsplätzen in den Betrieben.
Nachdem die NSU-Bande „aufflog“, hat sich ein Bewusstsein gegen den deutschen Rassismus entwickelt, aber die Bewegung ist immer noch sehr schwach. In dieser Bewegung existieren unterschiedliche Haltungen gegenüber dem kapitalistischen System und dem deutschen imperialistischen Staat. Viele AntirassistInnen haben immer noch „Hoffnung“ und vertrauen auf den „Rechtsstaat“. Diesen sehen sie als „Schiedsrichter“ über den verschiedenen Klassen der Gesellschaft stehend an. Das heißt, sie bewegen sich innerhalb des Systems.
Das alles zeigt uns, wie wichtig es ist, sich für eine richtige Haltung einzusetzen und dafür zu kämpfen, diese Menschen zu überzeugen, einen Kampf außerhalb und gegen das System zu führen. Wenn der Anti-Faschismus darauf beschränkt wird, nur gegen AfD, NPD oder auch gegen den NSU zu protestieren, sind wir nicht im Stande, die Ursachen von Faschismus und Rassismus zu bekämpfen bzw. abzuschaffen.
Ein antifaschistischer und antirassistischer Widerstand muss gegen das kapitalistisch-imperialistische System, gegen den deutschen imperialistischen Staat geführt werden. Ein systematischer und langfristiger Kampf auf dieser Grundlage, ist notwendig.
Heute, am Tag X in München und in vielen anderen Städten steht das Gerichtsurteil gegen die NSU-Mörder und Unterstützer im Fokus der Aktionen. Natürlich ist es richtig, das an diesem Tag in den Vordergrund zu stellen.
Aber die Reden, Grußbotschaften von Betroffenen und Angehörigen, von verschiedenen Initiativen u.a. weisen ganz deutlich daraufhin, institutioneller und struktureller Rassismus und die innere Faschisierung sind spätestens seit Anfang der 1990er Jahre im Aufwind.
Die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen waren gezielt geschürte Begleiterscheinungen des institutionellen und strukturellen Rassismus des Staates. Kurz gesagt, der deutsche Staat und seine Institutionen, Behörden etc. sind nicht nur bei den NSU-Morden Mittäter oder Unterstützer.
Der gesamte Angriff auf die demokratischen Rechte, die Gewalt und Pogrome gegen MigrantInnen, die Förderung des deutschen Rassismus und der faschistischen Ideologie, die Finanzierung und Stärkung der Nazi-Szenen, also die innere Faschisierung geht von diesem Staat aus.
Weil das so ist, ist auch keine Aufklärung beim NSU-Prozess angesagt. Weil die Hauptbeschuldigte
Zschäpe und das gesamte Umfeld der NSU-Bande geschützt werden sollten, wird weiter an der zynischen Legende vom „NSU-Trio“ festgehalten. Alle Fakten über die Mittäterschaft der angeblichen „UnterstützerInnen“ werden ignoriert. Hunderte Akten werden folgenlos vernichtet. Einsicht in zentrale Dokumente wird verweigert.
Oder wie im Fall von Halit Yozgat, der Entscheid der hessischen Landesregierung und des Landesamtes für Verfassungsschutz für bestimmte Unterlagen aus dem Jahr 2014, eine Sperrfrist von 120 Jahren zu verhängen. Dieser Staat und seine Behörden versuchen bis heute mit allen Mitteln, die Wahrheit zu vertuschen.
Statt Aufklärung werden aktuell im Jahr 2018 im Gegenzug Polizei, VS und andere Behörden mit immer mehr Befugnissen ausgestattet, umorganisiert und gestärkt. Und das wird der Bevölkerung als Schutz-Maßnahme „gegen Verbrechen“ verkauft.
Das Urteil vom OLG München wird von bürgerlichen PolitikerInnen und Medien als ein Beweis für den „Rechtsstaat“ und als Ende des Verfahrens gelobt. Gleichzeitig wird von Seehofer bis Merkel erklärt, dass das Urteil den Schmerz der Angehörigen und Betroffenen nicht stillen könnte… Auf Krokodilstränen wird auch nicht verzichtet! Was für ein Zynismus?
Nur eine Woche nach der Urteilsverkündung in München läuft über alle Medien die Nachricht über die Entlassung von R. Wohlleben am 17. Juni aus dem Gefängnis. Eine Woche nachdem der verurteilte A. Eminger bereits am Tag X das Gericht als freier Mann verlassen konnte.
Parallel dazu passiert in Heilbronn ein Angriff auf eine Bäckerei, deren Besitzer türkischer Herkunft ist. Der Täter schießt sechs Mal auf eine Frau hinter der Theke, die ein Kopftuch trägt. Sie wird nicht getroffen, der Täter kurz danach festgenommen. Er erklärt, seine Tat mit einem angeblichen „Kurzschluss“… Angeblich ermittelt die Polizei weiter, um den Fall zu klären!
Anfang August werden bei einer Explosion in Leipzig zwei Menschen verletzt. Die Explosion trifft einen Dönerimbiss und die Polizei prüft, „ob die Explosion fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt worden ist“. Und die Diskussion über „Ankerzentren“ laufen immer weiter auf Hochtouren. Abschiebungen von Geflüchteten werden massiv vorgenommen und die Grenzen weiter dicht gemacht!
Seit seiner Existenz sind die Verharmlosung der faschistischen Ideologie und der Rassismus Bestandteil der Staatsideologie des imperialistischen deutschen Staates. Letztendlich hält dieser Staat beide Herrschaftsformen der Bourgeoisie, die bürgerliche Demokratie und die faschistische Diktatur in der Hand. Eine Erwartung an diesen Staat, dass er den Faschismus oder die faschistische Ideologie von Grund auf bekämpfen wird, ist einer der größten politischen Fehler, den linke, revolutionäre und antifaschistische Kräfte machen können.
Die Herrschenden und ihr Staat wissen was sie tun und was sie wollen! Auch das Urteil im NSU-Prozess ist dafür ein konkreter Beweis. Es kommt darauf an, ob die linken, revolutionären, antifaschistischen Kräfte den entsprechenden Kampf auf der richtigen und konsequenten Grundlage gegen dieses System führen können oder nicht. Wir müssen unsere Bewegung und unsere Bündnisse bewusster aufbauen und stärken.
Wir kämpfen weiter solidarisch Seite an Seite mit den Angehörigen und Opfern rassistischer und faschistischer Gewalttaten. Von diesem Staat und seinen Institutionen erwarten wir nichts. „NSU-Komplex auflösen“, rassistische Gewalttaten aufklären, Faschisierung und Rassismus weiter bekämpfen – das müssen wir alle schon selber tun!
Die UrteileBeate Zschäpe wird als einzige Angeklagte der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und des zehnfachen Mordes für schuldig befunden sowie der schweren Brandstiftung. Sie erhält lebenslänglich, 15 Jahre Gefängnis und eine besondere Schwere der Schuld wird festgestellt. Letzteres bedeutet, nach 15 Jahren entscheidet eine Strafkammer, wann sie entlassen wird. Unter bestimmten Bedingungen, „Krankheit oder andere besondere Umstände“ kann das bereits nach 15 Jahren sein. Wir vermuten, dass sie trotzdem früher herauskommen wird. Entgegen dem Antrag des Generalbundesanwaltes (GBA) hat das OLG München keine Sicherungsverwahrung verhängt.Das Urteil ist Bestätigung der völlig absurden staatlichen Theorie vom „NSU-Trio“, das lediglich aus dem Trio Zschäpe, Böhnhard und Mundlos bestanden habe. Dem gegenüber stehen die nackten Tatsachen: Alle Beweisanträge, alle Fakten und Recherchen der Nebenklage haben das genaue Gegenteil bewiesen. Der NSU ist ein faschistisches Netzwerk mit einer Vielzahl von TäterInnen bundesweit. Alle anderen Mitangeklagten werden nicht wegen Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Daher werden sie mit milden Strafen belegt, die teilweise hinter den Forderungen der GBA zurückbleiben. Ralf Wohlleben, ehemaliger NPD- Funktionär wird wegen Beihilfe zum versuchten Mord und als „NSU-Helfer“ zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Die GBA hatte 12 Jahre gefordert. Wohlleben ist einer der Hauptakteure des NSU. Seit November 2011, also etwas mehr als sechseinhalb Jahre sitzt er im Knast. Eine Woche nach Prozessende hat das OLG den Haftbefehl aufgehoben mit Zustimmung des GBA. Dieser begründet das damit: aus Sicht des Angeklagten bestünde „die Hoffnung die Vollstreckung des letzten Drittels seiner Freiheitsstrafe könne zur Bewährung ausgesetzt werden.“ Wohlleben kann einen Wohnsitz bei seiner Frau und Arbeit bei dem Fascho Jens Bauer in dem Nazi-Basisdorf Bornitz/Sachsen-Anhalt nachweisen. Bauer hat Wohlleben offensichtlich für seinen NS-„neu-heidnischen“ Eliteverein „völkische Artgemeinschaft“ rekrutiert, 1951 von einem SS-Mann gegründet. Der Nazi-Liedermacher „Fylgien“ Döhring hat bereits eine Hymne auf Wohlleben und den NSU veröffentlicht: „Doch nun bist du zurück, bist wieder hier und die Bewegung, sie steht treu zu dir – nun auf in die Schlacht, es ist noch nicht vorbei.“ Die Drohung mit weiteren Nazi-Morden ist mehr als deutlich! Und die Antwort des Staates auch: Die Mittäterschaft am Mord von neun Migranten und an Bombenanschlägen mit zahlreichen Opfern wird tatsächlich nicht geahndet. Ein Freibrief für weitere Mordserien. André Eminger bekommt lächerliche 2,5 Jahre Haft, denn er wird nicht wegen Beihilfe zum Mord, sondern nur wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Obwohl er maßgeblicher Organisator der Illegalität des NSU war und in seinem Zentrum agierte. Obwohl er über seinen Anwalt im Schlussplädoyer nochmals seine offen „nationalsozialistische Gesinnung“ bekräftigen ließ. Auf seinem Körper ist in englisch „Stirb Jude Stirb“ tätowiert. Holger Gerlach erhält drei Jahre Haft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die GBA hatte fünf Jahre gefordert. Ein weiterer angeblich ahnungsloser Helfer des NSU, der „nur“ jahrelang Böhnhard seine Identität „geliehen“ und dem NSU treu beigestanden hatte. Carsten Schulze ist nach Jugendstrafrecht zu drei Jahren verurteilt worden. Als einziger Angeklagter hat er ausgesagt, hat im Gericht seine Schuld bekannt und sich bei den Familien der Opfer entschuldigt. Er war bereits vor dem Prozess aus der Naziszene ausgestiegen. Das Gericht hat demonstriert, dass es „nicht belohnt“ wird, wenn jemand über die Nazi-Taten ausgesagt. Zum Strafmaß für Wohlleben und Eminger erklärt Götzl laut Süddeutscher Zeitung im Urteil, „dass die Familienväter Wohlleben und Eminger ‚besonders haftempfindlich‘ seien, dass Gesamtstrafen gebildet werden, es geht um Tateinheit und Tatmehrheit.“ (12. Juli) Welches Mitgefühl! Richter Götzl hat hingegen in seiner Urteilsbegründung kein einziges Wort für das unerträgliche Leid, die rassistischen staatlichen und medialen Verurteilungen der Angehörigen und Opfer des NSU-Terrors übrig. Die ganze Dimension der NSU-Mordserie bleibt außen vor. Auf den verzweifelten Aufschrei von İsmail Yozgat als Götzl bei der Urteilsverkündung den Mord an seinem Sohn Halit „abhandelt“, reagiert der Richter brutal mit der sofortigen Androhung des Saalverweises. Als am Schluss die zahlreichen Nazis-BesucherInnen im Gerichtssaal triumphierend über die Freilassung Emingers klatschen, erfolgt keine Götzl-Drohung. Welcher Zynismus! Auch das ein bezeichnendes Statement dieses Gerichts! |
Patrycja Kowalska, Sprecherin der ‚Kein Schlussstrich‘ Kampagne kommentiert:
„Der Senat um Götzl sendet folgenreiche Signale: Für die Betroffenen des NSU-Terrors ist es ein weiterer Schlag ins Gesicht. Nazis wissen, dass sie wenig zu befürchten haben und werden es als Sieg und Bestätigung bejubeln. Für uns zeigt sich einmal mehr: Die Aufklärung des NSU-Komplex liegt an uns. Von staatlicher Seite ist nichts zu erwarten.“
„NSU-Tribunal“ geht nach Mannheim – Kommt zahlreich!
„Am 23. November findet eine Fortsetzung des NSU-Tribunals in der Bürgerbühne Mannheim statt:
WIR MÜSSEN REDEN hadi!
Wir führen den angestoßenen Prozess fort und zeigen auch in Mannheim Kontinuitäten von gesellschaftlichem und institutionellem Rassismus. Die Geschichten von migrantischen und postmigrantischen Kämpfen, der Entstehung von Little Istanbul und der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma sind dabei zentral.
Es geht um die Sichtbarmachung der Angriffe auf diese Realitäten, das versuchte Pogrom in Schönau, die Erschießung von Anton Lehman und die Morde des NSU.
Am 23. und 24. November 2018 ergreifen Betroffene in Mannheim das Wort und klagen eine andere Realität ein, eine solidarische Gesellschaft, die diese Verhältnisse ändern kann.“
Kontakt: Mannheim@NSU-Tribunal.de
Eine andere Welt ist möglich –
|